in English

Peter Sloterdijk

Pronoia, Paranoia, Metanoia
Bagatellen zur Kritik der schlimmen Vernunft

1 Voraussicht

Homo sapiens gehört von seinem evolutionären Design her zu den Lebewesen, die das Horizontprivileg genießen. Seine Lage in der prägenden Umwelt begabt ihn mit dem Blick ins Weite. Als Aufrechtläufer in den flachen Savannen Afrikas erwirbt er das Vermögen, bei Tag Gefahren von weit her kommen zu sehen, indessen er in der Nacht erhöhte Wachsamkeit aufbietet. Wer zu tief schläft, wacht möglicherweise nicht mehr auf. Unter Normalbedingungen durchläuft der Savannenmensch einen Stimmungszyklus von Tagheiterkeit und Nachtalarmbereitschaft, mit dem er sich in der Welt erträglich etabliert. Dabei profitiert er von einer günstigen Gesamtsicherheitsbilanz – wäre diese weniger vorteilhaft ausgefallen, wäre die Gattung seit langem nicht mehr auf der Erdoberfläche anzutreffen.

Durch das Zusammenwirken von Weitsicht bei Tag und Vigilanzsteigerung bei Nacht kommt ein erstes Ökosystem der Humanintelligenz zustande. Mit ihm hat sich der nackte Zweibeiner das Sapiens-Prädikat zuerst verdient. Die Savanne ist ein Immersionsraum für Umblicke, in dem die Fernsicht in die räumliche Tiefe mit der Vorhersicht in der nahen Zeit verbunden ist. Wer hier existiert, lernt im Realzeitraum zu agieren. Man sieht potenzielle Angreifer von weit her kommen und hat Zeit, sich auf emergierende Präsenzen einzustellen. Zwar gibt es auch hier Phänomene von Plötzlichkeit, vor allem in Verbindung mit Dunkelheit und Unübersichtlichkeit. Das meiste jedoch, was kommt, zumal der Prädator, der eventuelle Schadenbringer, der Todgeber, wird schon früh in seiner Näherung vor dem Horizont erkannt. Von der Fernsicht zur Suche nach dem Heil in der Flucht ist nur ein Schritt.

Dieses Kommen-Sehen ist die erste Ausprägung dessen, was man in höheren Kulturen Voraussicht (griechisch: pronoia, prognosis, lateinisch: providentia) nennen wird. Eines Tages wird man „Vorhersehung“ dem Gott zuschreiben und sie als Schicksal mystifizieren. Wo Menschen diese Art des „Sehens, was kommt“ in Unmittelbarkeit (Heidegger: das Er-Äugnis) eingeübt haben, schwingt der Gruppentonus zwischen Alarm und Gelassenheit. Die menschliche Stress-Kompetenz wird trainiert, indem sie in gewissen Abständen den ganzen Zustandskreis von prä-stressorischem Spiel, stressorischem Ernstfall und post-stressorischer Relaxation[1] durchläuft. Aus solchen Abläufen geht die erwachsene mentale Fitness hervor. Primäre Erwachsenheit heißt Ernstfalltauglichkeit. Noch heute sagt, wer einen vermeidbaren Schaden kommentiert: Ich habe es kommen sehen. Mag sein, dass schon in sehr alter Zeit erste Hypostasierungen der Stressoren vollzogen wurden: Die Gefahren fließen in Bedrohungstypen zusammen und gerinnen zu Geistern, Göttern und kleinen Koalitionen des Unheilvollen. Die alte Voraussicht hatte diese Größen unbemüht im Blick, die im Halbsichtbaren schweben – ein nach links strebender Geierschwarm über dem Horizont, eine tiefhängende schwarzgrüne Wolke, ein Fußabdruck des Löwen im nassen Sand und das Hohngelächter eines Urahnen am anderen Ufer des Flusses. Die Heiterkeit des Daseins wird davon nicht beeinträchtigt, es genügt, zu wissen, dass es das Drohende gibt und was es bedeutet. Der frühe Mensch geht mit seiner Angst sparsam um, er hütet sich davor, die stets ratsame Wachheit bis zum chronischen Argwohn voranzutreiben.

2 Böser Blick

Sobald das ko-evolutionär gewachsene Paar von Vorsicht und Voraussicht getrennt wird – was meist beim Eintritt in hochkulturelle Lebensformen geschieht –, entstehen auf beiden Seiten Überschüsse, die in luxurierende Sonderentwicklungen münden. Von jetzt an gehört die Szene den Spezialisten für Übertriebenes. Aus dem Vorsicht-Luxus geht die Paranoia hervor, aus dem Voraussicht-Luxus die Weisheitskultur, die später zur Philosophie wird. Während die Weisheit stets mehr Grund zur Gelassenheit vortäuscht, als in der Welt gegeben sein kann, macht sich die Paranoia ein Vergnügen daraus, mehr Grund zum Alarmiertsein vorzutäuschen, als den Umständen nach geboten wäre. Paranoia und Weisheit bilden ein Paar, das in betontem Abstand voneinander, doch unentbehrlich füreinander durch die Zeiten wandert. Wenn die erste das Talent zum bösen Blick entfaltet, kultiviert die zweite die Kunst, mehr Ordnung wahrzunehmen, als es gibt.

Man könnte die Paranoia zunächst für eine Art von Hellsehen halten: Sie sieht habituell mehr Unheil kommen, als wirklich kommt, wobei nie ganz ausgeschlossen ist, dass dennoch eintritt, was der Paranoiker vorhersah. Die bestätigte Paranoia gibt Anlass zur Etablierung von Prophetismus und Orakelwesen, indessen die unbestätigte scheinbar im Alltag untergeht.

In Wahrheit verschwindet der paranoide Vorsicht-Luxus nie, er richtet sich in marginalen Eigenwelten ein, wo das im Dauerargwohn fixierte Subjekt in den üppigsten Schadenshypothesen schwelgt. Es genehmigt sich ständig eine Extra-Ration an persönlicher Bedrohtheit, indem es den ganzen Horizont von getarnten Angreifern umstellt sieht; es feiert seine Intelligenz, indem es Betrug erkennt, wo andere nur harmlose Transaktionen sehen; es zelebriert Hochämter der Feinfühligkeit, indem es Anfeindungen gegen sich bemerkt, von denen die Mitwelt nie Notiz genommen hat; es vollbringt Wunder an Hellsichtigkeit, indem es dem Lebenspartner eine Untreue bescheinigt, von welcher dieser selbst nichts weiß; es entziffert in einem Seitenstechen eine tödliche Krankheit, die von der Ignoranz der Ärzte hartnäckig bagatellisiert wird; es erblickt im Weltlauf insgesamt die unaufhaltsame ruinöse Tendenz, wo andere nur den gewöhnlichen Gang der Dinge wahrnehmen; es liest aus den Zeichen der Zeit die bevorstehende Apokalypse heraus, während andere bei der Lektüre der Tageszeitung nichts anderes als den „realistischen Morgensegen“[2] empfangen.

Für den Paranoiker heißt In-der-Welt-Sein: die einmalige Gelegenheit genießen, ungerecht behandelt zu werden. Die Welt ist alles, womit es schlimm und schlimmer kommt. Das paranoide Ich hält sich als Fokus aller Einsichten in Schadenstendenzen zur Verfügung, in eigener Sache wie in allgemeiner. Wo Vorsicht, Alarm und Misstrauen luxurieren, formen sie eine Subkultur, die mit Eifer für ihre Reproduktion sorgt. Sie blüht am Schnittpunkt zwischen der rhetorischen Figur der Übertreibung (gemäß der Empfehlung Quintilians, bei ungewissen Gegenständen sei es für den Redner ratsam, zu weit zu gehen als nicht weit genug) und der logischen Figur der entlarvenden Reduktion (wie Demokrit sie aufbrachte mit seiner Behauptung, hinter der bunten Welt der sinnlichen Erscheinungen verbergen sich „in Wahrheit“ nur zwei Dinge: die Atome und die Leere). In psychologischer Perspektive erscheint die Paranoia als eine Form überschüssiger Seelenarbeit aufgrund eines verhohlenen Gelübdes. Der Paranoiker lebt in chronischer Überanstrengung, weil er sich der Aufrechterhaltung eines fantastischen Anspruchs auf Bedeutsamkeit widmet. Statt sich in mittleren Verhältnissen einzurichten, residiert er in einem Palast aus Bedrohungen und Nachteilen. Er will über ein Reich aus angekündigten Verhängnissen herrschen. Da jedes ferne und nahe Unglück ihm Recht gibt, sieht er sein Guthaben stetig wachsen. Als Oligarch der Verhängnisse betet er: Mein Reich komme!

Das paranoide Subjekt bleibt wesentlich einsam, selbst wenn es unaufhörlich auf der Suche nach Gleichgesinnten ist. Es sucht Genossen ohnehin nur, um auch von ihnen eines Tages enttäuscht sein zu können. Seinen wahren Platz findet der Paranoiker allein unter den bildenden Künstlern der Moderne, von denen es keinen gibt, der nicht auf seine Weise mit einem Palastbau im Unmöglichen befasst ist. Wer von den Künstlern unserer Zeit wüsste nicht, was es heißt, von Missachtung, von Häme, von als Unkenntnis getarnter Bösartigkeit umzingelt zu sein? Wo der Wille zur Kunst und die Paranoia sich verbünden, fällt der Beschluss zum Gegenangriff. Jetzt gilt die Devise des Surrealisten Pierre Reverdy: „Ich bin mit einem Panzer bewaffnet, der ganz aus Fehlern geschmiedet ist.“

In extremster Ausprägung führt die Paranoia zu der Überzeugung, es sei der Sinn allen Unheils, vor allem auf mich und mich allein zuzukommen. Diese Auffassung macht das Subjekt geneigt, mit jedem Schlimmsten, das vermeintlich kommt, zu kooperieren. Stets will es zwingende Indizien zusammentragen, die beweisen, dass alles so schlimm kommt wie vermutet, wenn nicht noch schlimmer. Franz Kafka hat den Luxus des Rechtbehaltens bis zum Ende in einer Notiz seines dritten Oktavhefts portraitiert: „Der Selbstmörder ist der Gefangene, welcher im Gefängnishof einen Galgen aufrichten sieht, irrtümlich glaubt, es sei der für ihn bestimmte, in der Nacht aus seiner Zelle ausbricht, hinuntergeht und sich selbst aufhängt.“[3] Kafka hätte hinzufügen können: Der am Strick Baumelnde empfindet die vollkommenste Genugtuung seines Lebens. Sie entspringt der endlich gewährten Übereinstimmung zwischen dem Schrecken, den er mit zuckenden Beinen erlebt, und dem seit jeher gehegten Verdacht, genau das sei es, worauf alles hinausläuft. Der argwöhnische Geist leuchtet in einem triumphalen Schlussgedanken auf: Es-ist-tatsächlich-so-wie-ich-immer-schon-dachte. Ist ein solches Finale es nicht wert, ihm von eigener Hand nachzuhelfen?

3 Idylle und Besinnung

Eines steht fest: So wie die Welt beschaffen ist, kann sie mir nur mit Feindseligkeit begegnen. Ich werde verfolgt, also bin ich. Ja, was ihr eure Welt nennt, ist nichts anderes als der Überschuss an Feindseligkeit, die sich auf mich bezieht – und über mich hinaus auf alles Übrige, was gut und ohne Argwohn war. Und doch bin ich anders als alles, was ihr verfolgen könnt. Ihr meint, ihr hättet mich in die Enge getrieben? Ihr denkt, eure Nachstellungen finden mich, wohin auch immer ich fliehe? Ihr bösen Träumer! Eure Bosheit ist machtlos gegen meine Unschuld. Umschlossen von einem Ring aus Herabsetzungen ziehe ich mich zurück in eine Sphäre, zu der eure Feindseligkeit keinen Zugang findet. Der Herzenskreis, die befreundeten Pflanzen, der grüne Frieden, die Haseninsel, das Ruderboot, das mich hinausträgt auf den See. Dort liege ich auf dem Rücken und blicke durch halb geschlossene Lider zum Himmel auf. In diesen Stunden hat mich niemand. Ich habe der Welt verziehen, mehr noch, ich habe sie vergessen. An solchen Tagen, auf dem Wasser träumend, bin ich neu und gut. Es ist, als ob ich euch nie begegnet wäre. Sollte euer Hass je einen Gegenstand gehabt haben, ich selbst kann dieser unmöglich gewesen sein. Ihr habt mich für einen Anderen gehalten, ihr habt einen Schurken meines Namens erfunden, der in nichts mir gleicht. Ich werde aller Welt vor Augen führen, wer der wahre Jean Jacques ist.

Im Auge des paranoiden Zyklons: die Idylle, die unbefleckte Empfängnis des Selbst, das Heil vom Ursprung her in natürlicher Güte. Solange dieses Zentrum sich verteidigt, tobt an der Peripherie der Sturm. Soll er sich legen, muss seine naturheilige Mitte, das übergute Ich, entwaffnet werden. Bewirken kann das nur die Besinnung, metánoia, die im Bösen, das scheinbar immer von außen eindringt, den Insassen der eigenen Garnison erkennt. Das Danebendenken wird vom Umdenken gegen sich gekehrt, bis die Quelle der verfolgerischen Überschüsse versiegt. Der Aberglaube an das Böse verliert seine Stütze im Phantasma.

Damit verschwindet nicht das Übel in der Welt, doch seine Inflation wird angehalten. Das Wettrüsten zwischen dem Argwohn und dem Betrug läuft aus. Nun muss man hinter den schlimmen Phänomenen nichts mehr suchen, es gibt keine Hinterwelt des Übels. Kafka schreibt in den Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg: „Die Sünde kommt immer offen und ist mit den Sinnen gleich zu fassen. Sie geht auf ihren Wurzeln und muß nicht ausgerissen werden.“ „Es kann ein Wissen vom Teuflischen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teuflisches, als da ist, gibt es nicht.“[4] Das Teuflische, das da ist… an anderer Stelle heißt es das Fatale, das Tragische, das Tragikomische. Die schlimme Vernunft hat nach dem Abbau der Übertreibungen genug zu tun. Mit den Projektionen verschwindet allein der Überschuss; die restliche Welt bleibt schlimm genug. Was ist von einer Welt zu halten, die arg genug ist, um zuzulassen, dass es Eifersüchtige gibt, die tatsächlich betrogen werden, unbekannte Künstler, die es wirklich verdienen, unbekannt zu sein, Hypochonder, die eines Tages effektiv unheilbar erkranken, Paranoiker, die wirklich verfolgt werden? Und was soll man über Weltkriege sagen, die wirklich ausbrechen, und über Apokalypsen, die wirklich offenlegen, was man nie wahrhaben wollte, diejenigen ausgenommen, die es immer schon kommen sahen?

[1] Dieser Ausdruck ist von Heiner Mühlmann entliehen; vgl. ders.: Die Natur der Kulturen, Springer, Berlin/New York, 1996.
[2] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Aphorismen aus Hegels Wastebook“, in: ders., Werke, Band 1, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1990, S. 540-567.
[3] Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, Max Brod (Hg.), Fischer, Frankfurt/M., 1980, S. 77.
[4] Franz Kafka, „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“, in: ders., Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1990, S. 39.