Thomas Macho
Unter Strom
Kaum eine technologische Entwicklung hat ähnlich viele Metaphern hervorgebracht wie die allmähliche Elektrifizierung der Welt ab dem späten 19. Jahrhundert: die Elektrifizierung der Beleuchtung, zuerst in den Theatern, danach auf Straßen und Plätzen, schließlich in den Wohnungen, die Elektrifizierung der Züge und Straßenbahnen, und zuletzt die Elektrifizierung des gesamten Haushalts, der Kühlschränke, Herde, Waschmaschinen. Im Zuge der Elektrifizierung entstanden ausgedehnte Stromnetze; 1895 waren in Deutschland 148 Kraftwerke aktiv, 1928 bereits 4.225. Strom verbindet. Umgangssprachlich wissen wir, was es heißt, „schnell zu schalten“ oder „eine lange Leitung zu haben“.[1] Im Netz werden „Kontakte“ gesucht und hergestellt, ein- oder abgeschaltet. Seit Luigi Galvanis Experimenten mit den Froschschenkeln (am 6. November 1780) ist bekannt, dass Strom als Medium der Belebung fungieren kann: Wie oft haben wir schon in den verschiedensten TV-Serien den Einsatz von Defibrillatoren zur Reanimation nach plötzlichem Herztod gesehen! Ein Stromstoß macht lebendig; ein vitaler, kreativer Mensch wirkt „wie elektrisiert“, steht „unter Strom“. Was lebendig macht, kann aber auch töten, wie Blitzschläge und seit dem 1. Januar 1889 elektrische Stühle bezeugen. Das Risiko tödlicher Stromunfälle motivierte den Arzt Stefan Jellinek, im Jahr 1936 ein Elektropathologisches Museum – mit rund 1.300 Objekten (defekte Elektrogeräte, angesengte Kleider nach Stromunfällen, Elektroinstallationsmaterialien, Schautafeln, Wachsmodelle und Feuchtpräparate) im Wiener Allgemeinen Krankenhaus einzurichten. Davor hatte Jellinek, der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Elektropathologie, seine Theorie des „elektrischen Scheintods“ entwickelt, die eine Fortführung der Reanimationsmaßnahmen nach Stromschlägen bis zum Auftreten erster Leichenflecken empfiehlt. [2]
Seltsame Dialektik: Was zuckt und zappelt, wenn es unter Strom gesetzt wird, muss nicht lebendig sein; was tot erscheint, nachdem es unter Strom gesetzt wurde, muss nicht tot bleiben. Jellineks Theorie des „elektrischen Scheintods“ trägt den vitalisierenden und tödlichen Effekten der Elektrizität gleichermaßen Rechnung; eigentlich müsste sie ergänzt werden durch eine Theorie des „elektrischen Scheinlebens“, die metaphorisch stets zitiert wird, wenn es heißt, dass die Dinge „zum Leben erwachen“, sobald sie an ein Stromnetz angeschlossen oder mit einer Batterie versorgt werden. Dass und wie ein Ding „zum Leben erwacht“, lässt sich übrigens regelmäßig hören: es brummt, knackt, summt und kreischt. Experimentelle Neurose, so heißt eine neue Arbeit von Jürgen Klauke: Sie zeigt den Künstler, der an verschiedenen Kabelsträngen – wie an Nabelschnüren – hängt; nicht alle Kabel sind angeschlossen. Der Körper bewegt und dreht sich, reißt Kopf oder Arme herum. Experimentelle Neurose: Im Jahre 1849 untersuchte Hermann von Helmholtz in Königsberg die Nervenleitgeschwindigkeit. Wie lange braucht ein elektrischer Impuls, bis er eine Muskelkontraktion auslöst? Die Differenz zwischen Reiz und Reaktion beträgt bei einem Frosch etwa dreißig Meter pro Sekunde; diese Nervenleitgeschwindigkeit ist also nicht sehr schnell. Um die Leitgeschwindigkeit menschlicher Nerven zu messen, stimulierte Helmholtz gleichzeitig Oberschenkel und Zehen; aus der Differenz der Reaktionszeiten ermittelte er eine Geschwindigkeit, die zwischen fünfzig und hundert Metern in der Sekunde betrug.[3] Kein Reiz erzeugt eine unmittelbare Reaktion. Wahrnehmungen kommen immer zu spät. Helmholtz illustriert diese Verspätung am Beispiel eines Walfischs, der erst nach einer Sekunde bemerkt, dass sein Schwanz verletzt wurde, und eine weitere Sekunde braucht, »um dem Schwanz zu befehlen, er solle sich wehren«.[4] Klaukes Fotografien, deren Serialität die Dokumentation von Experimenten zitiert, demonstrieren die zeitliche Verzögerung, der auch die Augen des Betrachters unterworfen sind, in der chronofotografischen Überlagerung körperlicher Bewegungen, vom Kopf und den Armen bis zu den Beinen. Der elektrisierte Mensch verwandelt sich – etwa in den Fotografien Gegen den Tag – in einen chaotischen Wirbel.
Sofern sich fast alle Dinge „elektrisieren“ lassen, wirken noch die fremdartigsten Produkte glaubhaft: etwa der „Elektrische Mönch“ von Douglas Adams, der stellvertretend für seine Benutzer glaubt und ihnen somit erspart, „alle Dinge zu glauben, die zu glauben die Welt von einem erwartet.“[5] Auch wer noch keinen elektrischen Mönch gesehen hat, kennt elektrifizierte Marienstatuen (mit blinkendem Sternenmantel) oder leuchtende Kruzifixe, kontakt- und anschlussfähige Kreuze, wie sie in Jürgen Klaukes Verdichtungsvorgang auftauchen. Und als hätte sie die aktuellen Debatten um Kindesmissbrauch vorhergesehen, so entwarf die Medienagentur Bilwet schon vor der Jahrtausendwende das Elektrische Kind, das den speziellen Ansprüchen berufstätiger Erwachsener entgegenkommen soll: „Es ist besonders widerstandsfähig, nervenschonend, pflegeleicht und lässt sich (je nach Vorliebe und Lebensgewohnheit) auf Tag- oder Nachtbetrieb schalten. Hat man gerade keine Zeit oder Lust, betätigt man mit einem einfachen Schlag auf den Hinterkopf die Standby-Taste. – Schon ist das Elektrische Kind® deaktiviert. Angenehme Nebenerscheinung: Es gibt keine unangenehmen Nebenerscheinungen wie blaue Flecken oder psychische Schäden (ein Umstand, der ein weites Feld von Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Ihrer Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt). Das Elektrische Kind® hat fünf Schwierigkeitsgrade, kann in drei Sprachen fröhlich sein und ist das ideale Geschenk für alle, die Kinder wirklich lieben.“[6] Ideale Geschenke wie elektrische Mönche, Kinder, Haustiere, Schafe oder Eulen zirkulierten bereits im Universum der Androiden und ihrer Jäger, das Philip K. Dick 1968 dargestellt und Ridley Scott – unter dem Titel Blade Runner – 1982, im Todesjahr Dicks, auf die Kinoleinwände gebracht hatte. In diesem Film konstatiert J. F. Sebastian, genetic designer: „I make friends. They're toys. My friends are toys. I make them. […] They're my friends. I made them.“
Die Elektrifizierung der Welt und ihre kulturelle Metaphorisierung – zwischen Leben und Tod – verstärkte sich im Horizont der Experimente zur „Elektrisierung“ der Menschen, die bereits im 19. Jahrhundert imaginiert und durchgeführt wurden. Frankenstein galvanisierte sein Monstrum zum Leben (in Mary Shelleys Roman von 1818); und ab 1842 versuchte der französische Physiologe Guillaume Benjamin Amand Duchenne de Boulogne die Rätsel der humanen Physiognomie durch Elektroden aufzuklären, mit deren Hilfe die mimische Muskulatur seiner Patienten gereizt und kontrahiert werden konnte. Duchenne kartierte beispielsweise die Lachmuskeln; und bis heute wird das unverstellte Lächeln, an dem auch die Augenwinkel beteiligt sind, als Duchenne-Lächeln bezeichnet. Im Jahr 1862 publizierte Duchenne die Ergebnisse seiner empirischen Forschungen unter einem Titel, der künstlerische Anwendbarkeit versprach: Mécanisme de la physionomie humaine, ou Analyse électro-physiologique de l'expression des passions applicable à la pratique des arts plastiques; auf mehreren Schautafeln wurde gezeigt, wie sich die elektrisch erzeugten Expressionen des Gesichts in Stein schlagen lassen, als Ausdrucksformen der Freude, des Vergnügens, der Trauer und Nachdenklichkeit, des Entsetzens oder der frommen Versenkung: Reiz Reaktionssystem. Nach Helmholtz, Duchenne oder Emil du Bois-Reymond führten die Elektrisierungsexperimente zu erheblichen Fortschritten in Hirnforschung und Neurologie, in der Elektrokardiologie oder in der Psychiatrie (etwa als Elektrokrampftherapie). Doch blieb es beim Wechselspiel zwischen Leben und Tod: Während elektrische Prothesen – von Herzschrittmachern bis zu den Elektroden im Gehirn, die neuerdings als Heilmittel gegen Depressionen angepriesen werden – das Leben verlängern und dessen Qualität steigern sollten, wurden Elektro-Schlagstöcke und Taser als Waffen eingesetzt, nicht nur zur Selbstverteidigung oder zur Disziplinierung von Angreifern, sondern auch zu Zwecken der Folter, die gerade im Zeitalter der Elektrifizierung systematisch perfektioniert wurde.
Wie kann diese Ambivalenz künstlerisch gestaltet werden? Die Analogie, die Duchenne auf seinen Schautafeln generiert – verzerrte Gesichter unter Strom, denen die verzerrten Gesichter einer Skulptur zu antworten scheinen – verfehlt die Differenz, den Umschlagspunkt zwischen zwanghafter Belebung und lebloser Expression. Die Verwandtschaft zwischen Bildhauern und Elektrophysiologen ist längst nicht so zwingend wie die Verwandtschaft zwischen Plastikern und Präparatoren, die Gunther von Hagens – seit Mitte der Neunzigerjahre – als ästhetische Legitimation seiner Körperwelten-Ausstellungen behauptet. Was Duchenne beobachtet, ist keine Symmetrie zwischen Stein und Muskulatur, sondern die Spannung zwischen elektrisch erzwungener Expression und fotografierter Pose. Die Elektroden erzeugen Masken, keine Gesichter – darin widersetzen sie sich dem Apparat, der ihre Wirkungen dokumentiert. Sie antworten auf die Frage nach physiognomischer Identität wie das 96-teilige Tableau der Antlitze, das Jürgen Klauke 1972 und 2000 aufgebaut hat: als System individueller Vermummungen, die nichts anderes offenbaren als ihre Distinktionen. Jedes Bild bezeugt eine persönliche Art der Verbergung des Gesichts.[7] Manche Teilbilder der Physiognomien Klaukes von 1974 zeigen dagegen, dass sie durchkreuzt wurden, was ihnen eine diabolische Pointe schenkt.[8] Sie erinnern entfernt an die Striche, die Marilyn Monroe – nach den letzten Fotositzungen mit Bert Stern im Juni 1962 für die Vogue[9] – an den Kontaktabzügen vorgenommen hat. Wer die Homepage von Jürgen Klauke aufruft,[10] wird mit einem zwölfteiligen Arrangement von zwei passbildartigen Selbstporträts konfrontiert: Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/1977). Die Überschriften zu den beiden Passbildern – plus oder minus, heiter oder streng – provozieren Assoziationen mit dem Szondi-Test.[11]
Natürlich gipfelt die Elektrifizierung der Welt in der Selbstelektrifizierung: Kein aufmerksamer Zeitgenosse verreist ohne Kabel, Ladegeräte und Adapter für Handy, Laptop oder Navigationssystem. Bald wird vorgeschlagen, nicht mehr ins Büro zu gehen, sondern stattdessen „intelligente Kleidung“ zu tragen, etwa ein „Communication-Jacket“, das den Arbeitsplatz über den Körper stülpt und jede vorstellbare Vernetzung ermöglicht, auch im Gebirge oder auf einer Südsee-Insel. Strategien der Selbstelektrifizierung depotenzieren den Körper zur Prothese, zum Artefakt zwischen Steckdosen und Stromkabeln, das in der Wand der elektrischen Kontakte verschwindet. Gegen den Tag: Die ausgerissenen Kabel verwerfen auch den Zwang zur Beleuchtung, die apokalyptische Prophetie einer Überwindung der Nacht durch ewiges Licht: „Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. […] Nacht wird es dort nicht mehr geben.“ (Offenbarung 21,23–25) Das himmlische Jerusalem sollte freilich schon zum 100. Jahrestag der französischen Revolution errichtet werden. Wolfgang Schivelbusch hat in Lichtblicke. Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhunder das Projekt des Architekten Jules Bourdais in Erinnerung gerufen, der anlässlich der Weltausstellung 1889 – in Konkurrenz zum Brückeningenieur Gustave Eiffel – einen Licht- und Sonnenturm in Paris errichten lassen wollte, der die Boulevards taghell beleuchten sollte. In diesem Tour Soleil „setzte sich die Lichtphantasie des 19. Jahrhunderts ein Denkmal, das dadurch, dass es unausgeführt blieb und bald darauf in Vergessenheit geriet, nicht weniger eindrucksvoll ist. Dieses Turmprojekt markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, in der man aufgrund der vorangegangenen technischen Fortschritte jede Lichtmenge für herstellbar hielt und allen Ernstes daran dachte, ›die Nacht zum Tage zu machen‹, wie eine damals populäre Redewendung lautete.“[12] Paris wäre endgültig zur „Lichterstadt“ der Aufklärung und Elektrizität avanciert.
Elektrifizierung als Illumination: Auch die Selbstelektrifizierung zielt auf Erleuchtung, wie sich mit einem Seitenblick auf Joseph Beuys und seine prominente Selbstinszenierung La rivoluzione siamo Noi erläutern lässt. Plakat und Postkarte von 1972 zeigen den Künstler, der mit energischem Schritt und umgehängter Ledertasche frontal auf den Betrachter zuläuft. Das Bildmotiv erinnert nicht nur an Jean-François Millets Semeur (1850) oder an den Jungen mit den Pistolen, der die fahnenschwingende Marianne, Liberté guidant le peuple von Eugène Delacroix (1830), begleitet, sondern auch an das Buchcover der deutschen Erstausgabe von Carlos Castanedas Lehren des Don Juan (1972 im März-Verlag), das wenig später vom Fischer-Verlag in zahlreichen Versionen popularisiert wurde. Die erste deutsche Übersetzung stammte ausgerechnet von Heiner Bastian, dem langjährigen Freund und Sekretär von Beuys; als Urheber des Umschlagmotivs wurde zunächst Hans Wehrli, in allen weiteren Ausgaben der vielfach ausgezeichnete Leipziger Buchgraphiker Hannes Jähn angeführt, der damals in Köln lebte und gerade erst – gemeinsam mit dem Kunstbuchhändler Walther König – die Chihuahua-Press gegründet hatte. La rivoluzione siamo Noi: Auf dem Castaneda-Cover trägt der Held an Stelle des Kopfes (und Hutes) eine hellstrahlende Glühbirne. Von solcher Selbst-Apotheose ist Klauke weit entfernt. Er kennt auch die andere Seite der Selbstelektrifizierung: das Spiel mit Unterwerfungslust und Fetischismus, die Ströme der Erotik und des Fetischismus; vor allem aber weiß er, dass die Elektrifizierung nicht zwingend der Menschen bedarf. Auch darum wirkt der Elektrophysiologische Exzess, der Wackelkontakt oder das Sich selbst optimierende System so befreiend wie amüsant: Die Fotografien versprechen keine Erlösungen mehr, weder esoterische noch erotische Emanzipation; sie lassen die reine, futuristische Ästhetik einer Ordnung aus Kontakten, Verbindungen und Unterbrechungen sichtbar werden, die keine physiognomischen Explikationen und „andere Realitäten“ mehr braucht.
[1] Vgl. Lutz Mackensen, Die deutsche Sprache unserer Zeit. Zur Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, Quelle & Meyer, Heidelberg, 1956, S. 28.
[2] Vgl. Stefan Jellinek, Der elektrische Unfall, skizziert für Ingenieur und Arzt, Franz Deuticke, Leipzig/Wien, 1925.
[3] Vgl. Hermann von Helmholtz, „Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Johannes Müller (Hg.), Veit, Berlin, 1850, S. 276–364.
[4] Hermann von Helmholtz, Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendungen für physiologische Zwecke. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen, Band 2, Heft 2, Bornträger, Königsberg, 1851, S. 169–189; hier S. 189. Vgl. auch Christian Kassung, Das Pendel. Eine Wissensgeschichte, Wilhelm Fink, München, 2007, S. 116 f.
[5] Douglas Adams, Der Elektrische Mönch. Dirk Gentlys holistische Detektei, dt. von Benjamin Schwarz, Rogner & Bernhard, Hamburg, 1988, S. 9.
[6] Agentur Bilwet, Elektronische Einsamkeit. Was kommt, wenn der Spaß aufhört?, dt. von Petra Ilyes, Supposé, Köln, 1997, S. 113.
[7] Vgl. Absolute Windstille. Jürgen Klauke – Das fotografische Werk, Ausst.-Kat., Bonn/St. Petersburg/Hamburg, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn, 2001, S. 190–195.
[8] Ibid., S. 273.
[9] Vgl. Bert Stern, Marilyn Monroe: The Last Sitting, Schirmer & Mosel, München, 2002.
[10] http://www.juergenklauke.de
[11] Stern 2002, S. 244.
[12] Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Carl Hanser, München/Wien, 1983, S. 11.