in English

Christian Katti und Ursula Frohne

Parapathologische Séancen


“Die Symptomatologie hat immer etwas von einer Kunst.”
(Gilles Deleuze [1])

Um sich über die Rolle und das Wesen des Fotografischen in den Arbeiten von Jürgen Klauke erste Klarheit zu verschaffen, dient vorläufig ein fast klassischer Dreischritt im Prozess der Entstehung und der ineinander greifenden Bildgattungen. Er reicht von der Zeichnung über die inszenierte Fotographie zum Tableau und der mehrteiligen, großformatigen Fotoarbeit bzw. der Serie. Natürlich haben auch teils intime Zeichnungen oder große Gouachen eigenständigen Werkcharakter in seinem œuvre, sowie Videos, Performances, akustische Räume etc., deren Dokumentation durch Fotos (oder Videos) wiederum ganz anderen Status besitzt als die großen fotografischen Serien. In seinen Tableaus und mehrteiligen Fotoarbeiten geht Klauke weniger narrativ vor, als vielmehr in Variationen. Er inszeniert – mit großem erzählerischen Pathos, das sich auch in lakonischen Formen äußern kann – dennoch keinen stringenten Handlungsablauf. Er fächert eher verschiedene Möglichkeiten auf, die sich um einen verdichteten Kern, um ein thematisches Epizentrum herum ansiedeln und ablagern. Dieser Kern kleinerer und größerer „Sensationen“ ist eingespannt zwischen existenzielle Dimensionen einerseits und ihre ironische Distanzierung andererseits, welche nicht nur nötig ist, da „die Wörter ihre Kraft verloren haben“, besonders die allzu großen, wie „Tod“, „Glück“, „Sehnsucht“ und sicher auch das von der Existenz – vom „Erhabenen zum Lächerlichen“ ist es heute nicht mal mehr ein Schritt.[2] Vielmehr droht die affirmativ existentielle Geste immer auch ihrer Tendenz ins unfreiwillig Komische zu erliegen und dabei unwillkürlich ins Autobiografische zurückzurutschen. Während die alltägliche tragédie humaine sich gerade in den Abwehrmechanismen und Auffangnetzen der jeweiligen Identitäten anbahnt, welche die groteske „Unzulänglichkeit des Daseins“ und die eigenartige „Schönheit des Scheiterns“ bestimmen. In dem Versuch die „Zonen des Unaussprechlichen in Bildvorstellungen zu biegen“,[3] geht es Klauke um eine spezifische Intensität, die das nachträgliche Subjekt und seine Identitätsmodelle sowohl konstituiert sowie fortlaufend durchschlägt. Seine Tableau-Szenarien treten als unendliches Spiel von Spiegelungen auf, in dem Akteur und Betrachter in ein Wechselverhältnis zwischen Voyeur, Komplize oder gar Denunziant eintreten. All das geschieht ohne jede böse Absicht, da Angst und Paranoia weder der Freiheit des Künstlerischen noch der allgemeinen Situation extern sind. Was den langen Weg kultureller Sublimierung gehen musste, entkommt der „ästhetischen Paranoia“ nicht mehr, hat an ihr aber möglicherweise genauso wenig auszusetzen, wie Sacher-Masoch an Kafkas Strafkolonie, die ja bekanntlicher Weise eine Allegorie der Gerechtigkeit überzeichnet – wenn auch sehr brutal.

Die Fotografie ist in Jürgen Klaukes œuvre mehr als nur technisch neutrales Mittel zum Zweck der bildlichen Realisierung. Schon Freud und vor ihm sein Lehrer Jean-Martin Charcot nutzten die Fotografie als epistemisches Modell der Psyche[4] und in der Literatur des 20. Jahrhunderts dient sie immer wieder als allegorische Figur der Reflexion und Verdichtung poetischer Prozesse.[5] Die sensuelle Empfindlichkeit der fotografischen Platte verleiht ihr einen besonderen diagnostischen Wert, in der nicht nur der französische Neurologe des 19. Jahrhunderts die ontologische Beweisfunktion der Fotografie verankerte. Sie vervollständigt die Beobachtung und verschafft Zugang zu den verborgenen Grenzwerten der menschlichen Regungen. Auch den geringsten Makel stellt die Fotografie zur Schau und befördert die subkutanen Ver-rückungen der Affekte, bringt die Inkongruenzen des Subjekts in unbestechlicher Beobachtungsgabe ans Licht, disloziert und typisiert das Individuelle. Sie erfasst die Symptome und verdichtet diese im Tableau zu pathologischen Zeichen, zu Chiffren der Leidenschaften, wie Georges Didi-Huberman in seiner faszinierenden Studie über die Bilderserien von Charcots Iconographie photographique de la Salpêtrière vortrefflich dargestellt hat.[6] Vor dieser historischen Kulisse fotografischer Aufzeichnungsverfahren, die den inneren Bewegungen und geheimsten Anatomien der Seele über die Sprache der Körper eine sichtbare Gestalt verliehen, entfaltet die Performanz der Körper-Ding-Choreografien im Zyklus der Ästhetischen Paranoia eine eigentümliche Prägnanz, die überhaupt erst über die fotografische Formation zu der ihr eigenen Bildlichkeit gelangt. Nicht Szenen oder Sequenzen im Sinne einer narrativen Struktur entfalten sich hier, sondern bildnerische Séancen, bei denen Menschen und Gegenstände in der Bewegtheit der Aktion schemenhaft im dunklen Raum erscheinen und, wie ein Spuk, wieder verlöschen, den Levitationen jener parapsychologischen Illusions-Veranstaltungen ähnlich, die Schwerkraft überwinden oder in ebenso phantasmatischen wie systemischen Verbindungen sich miteinander oder gegeneinander vermählen. Dabei stehen sich menschliche und nichtmenschliche Akteure nicht einfach wie Lebewesen und Lebenswelt gegenüber, sondern durch technische Mediation und performative Umsetzungen von Denkgebärden in Körpersprache sind sie in einem ständigen Austauschprozess begriffen.[7] Die tatsächliche Grenzüberschreitung ereignet sich in der ästhetischen Verschmelzung zwischen der dynamischen Präsenz der Körper und der dramatischen Silhouette ihrer Trugbildhaftigkeit. Denn wenngleich die verwischten Spuren der Gebärden und Gegenstände dazu verleiten, an das Zufallsmoment eines Schnappschusses zu denken, widersprechen diesem Eindruck die Präzision ihrer choreografischen Umsetzung und der hermetische Rahmen, in dem der künstlerische Schaffensakt ganz offensichtlich wiederholten „Posier- und Belichtungsséancen“[8] unterworfen ist. Nicht Darstellung einer exzessiven Wirklichkeit ist hier intendiert, sondern exzessive Darstellung der Wirklichkeit. In diesen Arbeiten fungiert die Fotografie nicht nur als ein etablierter Wirklichkeitsgarant, gleichsam als epiphanische Apparatur, sondern auch als eine Art Erscheinungsdroge, in der die Absurdität und Intensität, das être de trop des Lebens kondensiert.

Spielerisch, aber doch kompromisslos stellt Klauke den zeitgenössischen Beschwörungen der „Authentizität des Selbst“ seine Untersuchungen der „Existenzbedingungen der personalen Masken“ entgegen. Er entwirft Figuren eines uneinheitlichen Subjekts, „das mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern der prekäre Agent der Flucht durch Masken bleibt“.[9] Doch produzieren nicht diese Bildzeugnisse die Masken; vielmehr zeigen sie, dass ihre Bildfunktion ein notwendiges Vehikel ist im Spiel mit der zwanghaft paranoiden Positivierung kontrafaktischer Normen und Systeme. Ein möglicher Ausstieg aus diesen Systemen ist genauso hinfällig wie die Hoffnung, sie vermöchten sich und uns auf Dauer „selbst zu optimieren“. Doch das ist noch längst kein Grund zur Verzweiflung, selbst wenn die Lebenswelt samt ihrer Protagonisten nicht ganz unbeschadet aus den experimentellen Prozessen und Schadensabwicklungen hervorgeht. Erst in diesen Verwicklungen und Fehlidentifikationen von Subjekt und Sujet treten gewisse Symptome der Kultur und solche des Subjekts zum Vorschein, erst im Jenseits selbstbewußter Absichten wird der Einsatz des Spieles erfahrbar, erst hier zeugen die Masken und Inszenierungen von der archaischen Kraft des Fetischismus. Expressionismus und Surrealismus hatten bereits unternommen diese Kraftfelder in die ästhetische Sphäre des aufbrechenden Werkes zu transformieren – was auch einer gewissen Kolonialisierung der seelischen wie vielleicht auch der historischen Konvulsionen entsprechen musste.

Pathos und Pathologie

„Abgelichtet zu werden verschafft ein starkes Gefühl der Nichtexistenz.“
(Philippe Garnier)

Um Lebensprozesse zu studieren, muss man sie lebendig sezieren. Der Vivisektion bei lebendigem Leibe und vollem Bewusstsein aber sind Grenzen gesetzt. Schon Charcot sah sich mit diesem Problem konfrontiert. Will man in die pathologischen Seiten des Lebens eindringen, so wird man es töten, schreibt Didi-Hubermann über das Spektakel und den Skandal der Sichtbarkeit in der Klinik Charcots. „Müßte man sich also darauf beschränken, zu beobachten, ohne zu berühren, und nur die Oberfläche zu beobachten?“, fragt Didi-Huberman weiter. [10] Wie er in der Analyse von Charcots Methode, der Symptomatik der Hysterie ein Gesicht zu verleihen und die Theorie dieser Erfindung namhaft zu machen, darlegt, sind es das Theater und die Fotografie, welche Möglichkeiten der „experimentellen Beobachtung“ eröffnen. Sie verdichten sich über die Repräsentation eben jener irrationalen Ebenen, die dem zertrennenden logos allein unzugänglich bleiben und sich als páthos, in den Leiden(schaften), der Sucht, dem pathologischen Fall Bahn brechen, zu einer Ästhetik der Symptomatologie. Die Kunst besteht vielleicht darin, gerade diese widersinnigen Triebkräfte der Existenz, als ästhetisches Erfahrungsmoment „ins Werk zu setzen“,[11] wie es Jürgen Klaukes Bilderfolge Ästhetische Paranoia vom androgynen Standpunkt des Künstlers aus unternimmt. Gegenüber dem Schautheater der Psychologie im Fin de Siècle aber, das die Suggestibilität des „perfekten“ Symptoms, freilich gebunden an die Machtverhältnisse als medizinisches Erkenntnisinstrument, in Szene setzte, schlagen Klaukes Arbeiten immer wieder um in ein mokant-anarchisches Spiel mit den Pathologien der menschlichen Natur und ihrer Lebenswelt. Die utopische Dimension, die diesem Topos in der Literatur und der bildenden Kunst seit dem 19. Jahrhundert quasi als Inkubationszeit der kulturellen Verinnerlichung und Überhöhung des Symptoms zum genialischen Zug anhaftete, thematisiert Klauke indessen als Riss zwischen der Historizität des Subjektbegriffs und den heutigen Ökonomien des Selbst. Anstatt sich in den Chorus der bekannten künstlerischen Beschwörungsformeln der emanzipatorischen Kraft des Pathologischen von Baudelaire über Breton oder Genet bis zum frühen Foucault einzureihen, verzeichnen die neueren Arbeiten eine Verschiebung und Erstarrung der heroischen Abweichung zum Pathos. Vor der Kulisse einer sich ausbreitenden Ästhetisierung der Lebenswelt mutiert die ästhetische Figur selbst zum Auslöser der Paranoia. Die Rettung der ästhetischen Mission des Künstlers gelingt durch die Wendung ins dramatisch-spielerisch Absurde und sie vollzieht sich ohne von einer Trauer um den Verlust oder von polemischer Suspendierung von Authentizität bestimmt zu sein. Wie in der Semantik des Präfix’ „para“ impliziert, blickt der Künstler von der Seitenbühne auf die Pathologien der Zeit und reflektiert, „[e]ntgegen der in der heutigen Selbstbefragungskunst gängigen Autokriminologie, die sich den Fragen nach der ethischen, sexuellen und sonstigen biographischen Identität oder Prägung verstrickt, auf die ‚strukturale Inauthentizität‘ auch der noch so authentischen Masken.“[12] Diese para-natürlichen, gleichsam zur emblematischen écriture verwischten Körper gerinnen freilich zur trügerischen rhetorischen Figur, zu Trug-Bildern der Imagination. Sie umkreisen den Zustand der Täuschung in geistiger Verwandtschaft mit den simulakrenhaften Bildpraktiken eines Pierre Klossowski, die mit Begriffen wie Pathophanie – also der Visualisierung des Leidens am Begehren und an der menschlichen Instinktnatur – nur annähernd zu fassen sind und ebenso diskret wie unübersehbar den künstlerischen Diskursraum insinuieren. Ähnlich wie Klossowskis literarische Gebilde in Text und Bild als differentielle Doubles agieren, erleben wir den Auftritt der Akteure in Klaukes Fotografien als Verdopplung von Performance und Bildform, gleichsam die Anverwandlung des spectacle dramatique durch das spectacle pictural. Das Bild in seiner rationalen technischen Genese, aus dem fotografischen Prozess und der Inszenierung hervorgegangen, wird gleichsam selbst zum Fetisch. Repräsentation und Verstellung treten als machtvolle Wirkungsprinzipien der Sublimation einer im Bild anstatt im Leben exekutierten Handlungsfolge auf, weit davon entfernt nur Ersatzhandlung sein zu wollen. „Das Subjekt ist auf der Flucht durch die identifizierenden Masken hindurch, der ‚Wechsel‘ der Masken ist seine souveräne Bewegungsart.“[13] Das lateinische Wort persona kann bekanntlich sowohl „Maske“, „Larve“ als auch „Rolle“ oder „Charakter“ sowie „Persönlichkeit“ und „Individualität“ heißen.

Transformer – Figuren der Verwandlung

„Die Realität findet übrigens ihre Wahrheit erst in ihrer Reproduktion, allein die Fiktion macht die Existenz authentisch.“
(Pierre Klossowski)

Trotz der teils existenziellen Topoi – Sexualität, Gender, Identität, Melancholie – haben wir es bei Klauke mit einer Art von im Freudschen Sinn „unheimlichem“ Humor zu tun, der sich gerade nicht über die leidenschaftlich-obsessionelle Dimension hinwegsetzt, sondern aus ihr zurückwirkt, wie das von Beckett zu Thomas Bernhard, oder von Kafka bis Joyce zur Signatur ästhetischer Modernität gehört, welche sich gerade im Bruch mit der so genannten Postmoderne behauptet hat. Mit dem großen Werk-Block Formalisierung der Langeweile treten die Gender-Themen und die „Widerständigkeiten der 1970er“[14] Jahre etwas in den Hintergrund: Die Posen, die Exzesse, die Hypertrophien und die Krisen strahlen aus auf die minimalistische Strenge der experimentellen Systeme und die zirkulären Strukturen der neuen Serien. Sie bilden den anthropologischen Resonanzraum in dem sich der Künstler gleichsam als „Mann ohne Eigenschaften“ bis an die Schwelle der Unsichtbarkeit verflüchtigt. Als chimärenhafter Akteur elaborierter Szenen bewegt er sich wie ein Grenzgänger zwischen den Polen der Vorstellung/Distanz – so der gleichnamige Titel der einzigen (teils) farbigen Bilderfolge im Konvolut der Ästhetischen Paranoia – und der Exposition. Der augenblickhafte Zugriff der Fotografie schleift diese Szenen zu Facetten einer scheinbaren Typologie, die sich zwischen Wiederholung und Variation, Theatralität und Absurdität, zwischen Minimalismus und Exaltiertheit zu einer Symptomatologie der parasympathischen Reizverarbeitung ordnet. Paul Virilios wegweisende Beschreibung des Zusammenhangs von Akzeleration und Perzeption, von Beschleunigung und Wahrnehmung gälte es zu verfeinern, um die ästhetische Erfahrung dieses Schwebezustands zwischen Bewegung und Konstanz, zwischen Repetition und Impuls, zwischen Reiz und Reaktion zu erfassen. Die überraschend minimalistisch angelegten Muster und Strukturen der neuen Bilderfolgen – etwa Elektrophysiologischer Exzess, Wackelkontakt, Sich selbst optimierendes System – greifen die reduzierte Formensprache der 1960er Jahre auf, um sie zu technokratisch ästhetischen Systemen zu überdehnen. Das Motiv der Reihung, Wiederholung und Leere wird dem Betrachter als ein unerwarteter Erfahrungsimpuls auferlegt, in dem der hypermoderne horror vacui von zwanghaftem Zeitvertreib, manischem Kommunikationsdiktat und exzessivem Verschaltungswahn ebenso zur Ikone wachsender Weltarmut gerinnt, wie die Stereotypie der Ordnungssysteme als Rückgewinnung von Konzentration und Nische der Vergegenwärtigung des Daseins lesbar wird. Als kulturkritischer Kommentar wären diese wie schon seine frühen Arbeiten jedoch missverstanden, denn sie sind von der Absicht geleitet, das brisante Wechselverhältnis zwischen Exzess und Kontrolle, zwischen Obsession und Reflexion durch die Möglichkeit des physisch-psychischen Ausagierens in einen Prozess der Selbstwahrnehmung und der Erkenntnis normativer sozialer und ästhetischer Strukturen zu überführen. In ihrer Bildhaftigkeit verleihen Klaukes Tableaus der Einsicht Gewicht, dass der ästhetischen Erfahrung ein mitunter negativer Erkenntnisgewinn innewohnt, der als emanzipatorischer Prozess die Möglichkeit der Selbstbestimmung offen hält; demgegenüber erweist sich die fortschreitende Ästhetisierung der Lebenswelt als unbewusste Einwilligung zur Vereinnahmung durch ein prinzipiell überlegenes und dominantes System.

Die Szenen, Sensationen und Variationen, welche aus den großen thematischen Blöcken hervorgehen, erzeugen ihre bildlichen Ereignisse aus einem labilen Gleichgewicht von Kontrolle und stereotypen Vorgaben einerseits und Improvisation wie Abweichung andererseits. Die kodifizierten Formen der Massenproduktion und Technik, die Steckdosen und Kabel formieren sich in seriellen Anordnungen zu Leerformen, Neurosen eines sich scheinbar „selbst optimierenden Systems“, das immer wieder mit den Ideosynkrasien des Künstlersubjekts kontrastiert. Denn der Drill der Systeme vereinnahmt den Protagonisten nicht vollends. Seine Eingriffe in die klare Disziplin der maschinellen Ästhetik erweitern das Spektrum der Modalitäten und durchbrechen die Reiz-Reaktionsschemata durch die Eigendynamik unberechenbarer Handlungsfolgen: Das Raster löst sich auf, sobald die Kabel in Bewegung geraten. Der Wackelkontakt wird zum scheinbar kontingenten Scheitern der Ordnung sowie der Verkabelung, wobei der Mensch die Normen ebenso (re-)produziert wie deren Abweichung. Ritual und Obsession, Ordnung und Chaos, Vernunft und Paranoia, Kalkül und Naivität, Strenge und Exaltation forcieren sich gegenseitig und durchkreuzen den disziplinären Anspruch des Systems; Anspielungen auf die Kollision zwischen Individuum und Institution. Maß und Maßlosigkeit finden in dieser Konzeption in einem merkwürdigen Komplementäreffekt zueinander, oszillieren in einem neuartigen „Über-Maß“, einer Transformation der Maßeinheiten, denn Klauke entfaltet in den Bilderfolgen der Ästhetischen Paranoia eine Ausdrucksintensität, die ihr Momentum aus der Pendelbewegung zwischen Konstanz und polymorpher Ereignishaftigkeit gewinnt und gleichermaßen in der Affirmation wie dem provozierten Scheitern der Ordnung die Grundbedingungen des paranoiden Daseins verortet.[15] Das Grundthema des de Sad’schen Universums basiert auf eben dieser Unterscheidung der zwei Naturen, die in Klossowskis Begehrensphantasmen wiederkehrt und die Zerstörung der Ordnung als Metamorphose in eine andere Ordnung, ja als deren Umkehrung in Zeugung vorführt. „Die zweite Natur ist diejenige, die Gesetzen und Regeln unterworfen ist, welche sie sich selbst gegeben hat,“ so Gilles Deleuze über die totalisierende Idee der Negation bei de Sade.[16] Genau hierin zeigt sich der Sinn der Wiederholung, der Monotonie, die in Form einer Beweisführung „kalt beschleunigt und verdichtet“, und den Abstand zwischen dem System und dem Ursprünglichen ausgleicht, wie nicht zuletzt in den erstmalig gezeigten monumentalen Tableaus der Schlachtfelder ins Auge springt. Abstrakte Texturen und lasierende Farbeffekte von fotografisch sezierten Eingeweiden, die Klauke bei Streifzügen über die Konfiskat-Halden der Schlachthöfe, wo unbrauchbares Fleisch entsorgt wird, einfängt, fügen sich in das Raster einer strengen Bilderordnung, in dem das Amorphe, das Formlose der Natur der mechanischen Gestalt und kristallinen Oberfläche des schwebenden Stuhls zutiefst entgegengesetzt ist. Diese Bilder kehren das Innere nach Außen, fördern den abjekten, verworfenen Körper zutage, der das Ich mit seinen Grenzen und seiner Negativität konfrontiert.[17] Von diesem Niederen (bas), dem Formlosen spricht Georges Bataille als dem Inbegriff des Infamen. Das Niedere fände auf keinem Stuhl Platz, es fällt darunter. Es destabilisiert das Organisationsprinzip der signifikanten Form, verletzt den Narzissmus und setzt die fundamentale Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund, zwischen dem Selbst und dem Anderen bis an die Schwelle des Obszönen aufs Spiel. Es scheint jeden Rahmen, ja die Instanz des Bildes selbst zu negieren, wodurch es entgegen aller Unförmigkeit im emphatischen Sinn form-los (zu l’informe) wird.[18] Dieser Verneinungsprozess zeichnet sich auf einem Bedeutungshorizont ab, auf dem Sigmund Freud auch die „Verwerfung“ und „Verleugnung“ untersucht hat. Sie steht jedoch auch in umgekehrter Beziehung zum Fetisch, der das Bild zum Substitut für den bedrohten Glauben an die eigene Einflussnahme und Handlungsmächtigkeit machen möchte. Das Bild verkörpert gleichsam das Ideal und dient zugleich der Neutralisierung des Wissens um die Wirklichkeit.

Bannkraft des Fetisch

„Der Fetisch sei deshalb keineswegs ein Symbol, sondern gleichsam ein fester und erstarrter Plan, ein festgehaltenes Bild, ein Photo, auf das immer zurückgegriffen werde, um die unheilvollen Folgen ungewollter Entdeckungen zu bannen.“
(Gilles Deleuze [19])

Die Engführung der Fetischisierung[20] mit dem Neurotischen in der Ästhetischen Paranoia findet ihren Höhepunkt in der Verkleidung und Ausstaffierung des gesichtslosen Akteurs mit einem übermächtigen und nicht ganz eindeutig weiblich konnotierten Haarteil, das schon in Sacher-Masochs Venus im Pelz als eines der bevorzugten Fetischobjekte in Suspension des Wissens um die Tatsächlichkeit einen erotisierenden Schwebezustand erzeugt. Auch wenn man die psychoanalytisch forcierte Verschränkung von Haaren, Weiblichkeit und Kastration nicht ad absolutum setzen will, so bilden Haar und Sexualität doch einen untrennbaren Zusammenhang, der im „Motiv des Begehrens, Verschlingens, der Rettung und melancholischen Inszenierung“ in der Mythologie, der Literatur wie in den Bildkünsten eine lange Tradition hat.[21] Die Ambivalenz aber, die gerade vom Haar als Zeichen der Verunklärung, des Verschiebens und Überblendens von geschlechtlichen Identitäten (queering) ausgehen kann, führt die gebieterische Form der dichten schwarzen Haarsäule als unverkennbar phallischen Symbolträger vor Augen, der ebenso unmissverständlich als etwas Artifizielles ausgewiesen ist und somit erneut den Topos der Maske aufruft. Das Gefangensein der Szenarien in lebensweltlicher Melancholie, bis hin zur folgsamen Depression des einsamen Wartens auf der Bettkante, speist sich gerade aus dem Wissen um deren inszenatorische Qualität und ist nicht mit einer Zeitdiagnose oder einer Aussage über die Natur des Begehrens zu verwechseln, welche vermeintlich metaphysische Wahrheiten bereithielte. Das gilt auch für den lächerlichen Kampf mit der krakenhaften Perücke und das Abreagieren am Kabelsalat, das noch die Steckdosen aus der Wand reißt, oder in „experimenteller Neurose“ eine Verbindung mit dem Stromkreislauf sucht. Die „Schönheit des Scheiterns“ obsiegt selbst da, wo die verzweifelten Experimente glücken oder wo sich die Ästhetische Paranoia als verführerisches Aphrodisiakum der widernatürlich langen Haare in ein vernichtendes Medusenhaupt verwandeln.[22] Die zum Extrem stilisierte strenge Heldin fällt zurück in ihre „zweite Natur“. Die losgelöste phallische Haarsäule wird zum „attraktiven Attraktor“ und die entfesselte Gestalt entlädt sich schließlich in einem autoerotischen Wutkrampf „ästhetischen Aufruhrs“. Kunstfigur und Hetäre, Karikatur und Erstarrung, Partialobjekt und Verwicklung umkreisen die Metamorphosen einer übersinnlichen Kultgestalt zu einem Bild der formlosen Auflösung und Transformation. Ihre surreale Haarpracht sowie das Partialobjekt der phallischen Haarsäule ließen die Gestalt zum ersehnten Bild ihrer selbst werden, wogegen sich das Gesetz ihrer „zweiten Natur“ in ästhetischer Paranoia masochistisch entladen muss. Diese Figur scheint nicht zuletzt ein selbst auferlegtes Gefangensein im Schaffensprozess mittels ihres eigenen Bildes, ihres anonymen Porträts zu reflektieren. Die Übergänge zwischen Obsession und Kunst, zwischen Fetisch und Werk geraten absichtsvoll ins Fließen, ohne von einem Endzweck, einer Definition oder einem letzten maskenhaften Sinn gehalten werden zu müssen. Der Fetisch des Natürlichen, der erotischen Anziehungskraft und der Attraktivität des gleichwohl toten Haares oszilliert in der schrecklichen Schönheit der Kunst und ihrer ebenso absurden wie selbstvertändlichen Unnatürlichkeit: „komm Kunst, Kunst komm.“

Fußnoten:
[1] Gilles Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Insel, Frankfurt/M., 1980, S. 163–281, hier 169. Siehe auch den zweibändigen Katalog herausgegeben von Peter Weibel, Phantom der Lust: Visionen des Masochismus, Ausst.-Kat. Graz, Belleville, München 2003.
[2] „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas (franz.), ‚vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt’, ein Ausspruch Napoleons I., den er im Dezember 1812 während der Flucht aus Rußland mehrmals gegenüber seinem Gesandten de Pradt in Warschau tat. In ähnlicher Form findet sich der Gedanke schon früher.“ Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 5., Leipzig, 1906, S. 314. Jürgen Klaukes Performance Aspekt – Die Wörter haben ihre Kraft verloren, fand auf der Messe des Internationalen Kunstmarkts, Köln am, 28. Oktober 1977 statt.
[3] Jürgen Klauke am 11. Oktober 2009 in einem öffentlichen Gespräch im KunstSalon, Köln.
[4] Sarah Kofman, „Freud – Der Fotoapparat“, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie: Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2002, S. 60–66.
[5] Literarische und literaturtheoretische Aneignungen rekonstruiert Irene Albers, „Das Fotografische in der Literatur“, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001, Bd. 2, S. 543–551. Siehe auch Irene Albers, „’Der Photograph der Erscheinungen’: Émile Zolas Experimentalroman“, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2002, S. 211–251. Zur fotografischen Praxis von Literaten siehe Thomas von Steinaecker, Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Transcript, Bielefeld, 2007.
[6] Siehe Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie, Fink, München, 1997.
[7] Bruno Latour, „Ein Kollektiv von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen“, in: Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt/M., S. 211–264.
[8] Siehe Philippe Garnier, Die Entdeckung der Unschärfe, Liebeskind, München, 2002, S. 129.
[9] Siehe Sebastian Egenhofer, „Theater und Gewalt“, in: Catherine Sullivan, Ausst.-Kat. Braunschweig/Aachen/Zürich, Ringier Verlag, Zürich, 2007, S. 161-169, hier 161.
[10] Siehe Didi-Huberman 1997, S. 30, Didi-Hubermans Hervorhebungen.
[11] Auch Didi-Huberman spricht diese ästhetische Dimension der Beobachtung an, wenn er konstatiert Charcot habe „[d]ie Kunst, Tatsachen ins Werk zu setzen“ mit seiner Methode der visuellen Essentialisierung der Symptome des Körpers praktiziert. Siehe Didi-Hubermann 1997, S. 28 ff. Das Problem ließe sich in abgewandelter Weise aber auch auf der Ebene der Sprache reformulieren. Siehe Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2000.
[12] Siehe Egenhofer 2007, S. 166.
[13] Ibid.
[14] Siehe Uwe Martin Schneede, „Körper, Figur, Bild: Zu Jürgen Klaukes fotografischem Werk“, in: Absolute Windstille: Jürgen Klauke – Das fotografische Werk, Ausst.-Kat., Bonn/St. Petersburg/Hamburg, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn, 2001, S. 109-117.
[15] Interessanterweise geht Jacques Lacans Beschäftigung mit der Paranoia seinem Interesse an der Psychoanalyse eindeutig voraus, wie bereits seine Dissertation verrät. Siehe Jacques Lacan, De la psychose paranoiaque dans ses rapports avec la personalité, Navarin, Paris, 1975. [1932]. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek als Jacques Lacan, Über die paranoische Psychose und ihre Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Peter Engelmann (Hg.), Passagen, Wien, 2002.
[16] Siehe Deleuze 1980, S. 181.
[17] Der Begriff des „Abjekten“ wurde bekanntlich von Julia Kristeva in ihrem Essay Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Éditions du Seuil, Paris, 1980 wirkungsmächtig erörtert; siehe auch dies., Powers of horror. An essay on abjection, Columbia University Press, New York, 1982.
[18] Siehe George Bataille, Das obszöne Werk, Rowohlt, Reinbek-Hamburg, 1972. Formless: A Users Guide, Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss (Hg.), Ausst.-Kat. Paris, Zone, New York, 1997.
[19] Siehe Deleuze 1980, S. 186.
[20] Siehe Hartmut Böhme, „Fetischismus im 19. Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzepts“, in: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Festschrift für Eda Sagarra, Tübingen, 2000, S. 445–465. Siehe auch ders., „Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext“, in: Volker Gerhardt (Hg.): Marxismus. Versuch einer Bilanz, Parerga, Magdeburg, 2001, S. 289–319 sowie als Online-Publikation unter: http://www.culture.hu_berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/fetisch.html (gesichtet 16. 03.2010) hier charakterisierte Hartmut Böhme den „Fetischismus als ein rhetorisches Konzept, um am Fremden und Anderen die eigene Praxis zu pejorisieren und zu verfolgen.“
[21] Zur Ikonografie und Symbolik der Haare siehe Inge Stephan, „Das Haar der Frau. Motiv des Begehrens, Verschlingens und der Rettung“, in: Claudia Benthien (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Rowohlt, Reinbek-Hamburg, 2001, S. 27–48, hier S. 31.
[22] Sigmund Freud hinterließ in seinem Nachlass ein kurzes Fragment, „Das Medusenhaupt“ von 1922, in dem er das Grauen vor den Schlangenhaaren der Medusa mit dem Kastrationskomplex erklärt. Siehe Sigmund Freud, „Das Medusenhaupt“, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. XXV, H. 2., S. 105-106, und Sigmund Freud, Gesammelte Werke, 17, Anna Freud u.a. (Hg.), Imago, London, 1940-1952, S. 47 ff. Siehe auch Inge Stephan, Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Böhlau, Köln, Weimar, Wien, 1997.