Heinz-Norbert Jocks
Reise ans Ende der Nacht – Ein gespräch mit Jürgen Klauke
„Man glaubt sich zu entfernen und findet sich in der Vertikalen seiner selbst wieder.“
(Michel Foucault)
H.-N.J.: Wenn du deine Augen schließt, was siehst du dann vor deinem inneren Auge? Fotos, nichts als Fotos?
J.K.: Nein. Solange ich ihn durch Konzentration oder eigene Vorstellungsmuster nicht aufhalte, fließt da ein endloser Fluss von Gedankenfetzen, Informationsfragmenten, Bildern, Tönen, Kurzgeschichten, Gegenwärtigem und Vergangenem durch mich hindurch, und zwar unaufhaltsam. Ohne Unterbrechung. Im Glücksfall ist irgendwann der Punkt erreicht, da etwas von dem, was mich durchflutet, als sinnliche Wahrnehmung in meinem Gedächtnis haften bleibt. Kaum ist das geschehen, bricht diese Endloscollage wieder über mich herein, mit der wir leider so wenig anfangen können.
H.-N.J.: Als was würdest du deine Fotografie bezeichnen? Als Ausstülpung deiner inneren Wahrnehmungen? Als Antwort auf das Leben?
J.K.: Als konzeptionelle, inszenierte Fotografie. Es handelt sich um innere, durch äußere Erfahrungen gestützte Wahrnehmungen und Vorstellungen. In Bilder umgesetzt, unterscheiden sie sich, wie ich hoffe, wohltuend von der sich fast immer im selben Kleid präsentierenden Fotografie.
H.-N.J.: Aus welcher inneren Verfasstheit heraus drängte es dich zu einem künstlerischen Ausdruck? Was gab es da für innere Appelle? Haben diese sich mit der Zeit verändert?
J.K.: Das waren recht klassische Symptome. Da war zunächst einmal die Beschäftigung damit und zum anderen die große Langeweile des Internatslebens. Der Wunsch, der dortigen Monotonie zu entfliehen, war gepaart mit der Hoffnung auf ein aufregendes, weniger stupides Boheme-Leben. So ungefähr ist es gekommen und so schön und so schwierig verlaufen .
H.-N.J.: Nun wirkt deine Art der Fotografie sehr extrovertiert. Mein Eindruck ist, dass dieser Extrovertiertheit des Ausdrucks eine Introvertiertheit vorausgeht? Mir scheint, als wäre diese ästhetische Extrovertiertheit hart erkämpft und als hättest du ihr mit der Zeit immer mehr Form und damit Fassung gegeben?
J.K.: Ich habe mich bei anderer Gelegenheit selber einmal als introvertiert- extrovertierten Menschen bezeichnet. Doch das hat mit meinen Fotoarbeiten nur wenig zu tun. Was soll daran extrovertiert sein außer, dass ich selbst häufig Bildmaterial bin? Übrigens führte das in den Anfängen hin und wieder mal zu dem seltsamen Narzissmus-Vorwurf. Gott sei Dank hat sich das aber nach mehr als 35 Jahren erledigt. Wenn man so will, unterstreiche ich mit meiner Anwesenheit ja nur die Identität des Bildes. Durch meine ständige Präsenz als Kunstfigur löse ich mich als Person quasi auf. Ich werde mehrdeutbares Material, bin Bild-Verstärker, Gedankenträger, Stellvertreter, ja letztendlich Bild.
H.-N.J.: Wie kamst du überhaupt zur Kunst? Und, was für Werke beeindruckten dich anfangs am meisten?
J.K.: Da in keinem Kulturhaushalt aufgewachsen, stellten sich erste Bemühungen am Gymnasium ein. Im Vorfeld faszinierten mich die alten Geschäftsbücher in Sütterlinschrift meines Großvaters, die ich auf dem Speicher fand, und dann noch, die „schönste Schrift der Welt“ meines Onkels, Jakob Goldscheid. Immer wenn ich einen Brief für ihn wegbrachte, konnte ich mich gar nicht satt sehen. Auch im Griechisch-Unterricht war es die Schrift mehr als das Fach selbst. Und dann aber ganz rasch die Abbildungen und insbesondere die, die das Sexuelle aufs natürlichste in Szene setzten. Das selbe wollte man uns ja ständig aus dem Gehirn blasen. Die Moderne begegnete mir hier und da in Kalendern und Lehrbüchern mit Abbildungen von Klee, Marc, Feininger, Masarel, Kandinsky oder von Picasso. Der best angezogenste Lehrer, Herr Blumentritt, mein Kunsterzieher, förderte meine vorhandene Begabung, brachte mir Bilder oder kleine Kataloge von Matisse, Monet und anderen mit. Ich durfte im Unterricht für mich arbeiten, oder er stellte mir Sonderaufgaben. Nicht lange, dann wurde er, denunziert als Homosexueller, aus dem Schuldienst entfernt. Er hatte die gymnasiale Fußfallmannschaft nackt unter der Dusche fotografiert. Heute fast unvorstellbar, dass jemand deshalb seine Sachen packen muss. Es passte in die Zeit der „sauberen Leinwand“. Mein Entschluss stand inzwischen fest, ich wollte ein für meine Eltern als Gebrauchs-Grafik-Studium getarntes Kunststudium aufnehmen. Hierfür benötigte ich eine grafische Lehre und absolvierte eine verkürzte, immerhin zwei Jahre währende als Schriftsetzer und Typograph. Ab sofort führte ich das Leben des jungen Künstlers „als Hund“ und bestand die Aufnahmeprüfung an den Kölner Werkschulen. Das Studium „Gebrauchs-Grafik“ habe ich nie angetreten. Diese Unbefangenheit, die ich damals an den Tag legte, und die damit verbundenen Wahrnehmungen, aber auch die Intensität, das anscheinend so Nutzlose und dieses Zeitverplempern markieren die Entwicklung eines eigenständigen Raums, aus dem heraus ich künstlerisch zu handeln begann. Mehr oder weniger selbstbestimmt, bei aller dabei zu überwindender Fremdbestimmung. Dieses Reservoir scheint mir heute immer noch wichtig.
H.-N.J.: Gab es Vorbilder?
J.K.: Nein, ich hatte keine. Aufgrund meines eher niedrigen Informationsstands war ich aufnahmefähig für alles, was mir an der Kunstschule entgegenkam. Während der Internatszeit, mit der ich Leere und Langsamkeit verband, hatte ich mir etwas anderes, womöglich auch Wesentlicheres, nämlich eine innere Welt geschaffen. Eine Art Wunschmaschine in Bereitschaft. Es war der Wunsch, in Aktion zu treten. Auch inhaltliche Strukturen waren in diesem Speichersystem abgelagert. Sowohl die Kunstschule als auch die Zeit waren von abstrakter Malerei wie dem Informell sowie von überwiegend biederer Gegenständlichkeit okkupiert. Für meine Mitteilungen aus der „Zivilisation“ war die Ungegenständlichkeit zu vage. Zu vieles klammerte sie aus. Wie jeder junge Student probierte ich einiges aus. Dabei hatte ich aber immer schon den Menschen und seinen Schatten im Auge, und stieß dabei recht beschleunigt auf die französische Avantgarde der 30er und 40er Jahre.
H.-N.J.: Gebrauchst du den Begriff der Wunschmaschine im Hinblick auf die Philosophie von Gilles Deleuze und Felix Guattari?
J.K.: Mit Wunschmaschine meine ich einfach das, was man mit dem Wort assoziiert. Wir können sie auch Defizitmaschine nennen, denn die meisten meiner Wünsche resultierten aus den endlosen Verbotsschildern des Zeitgeistes und gleichzeitig aus den hoffnungsvollen, auf Umsetzung lauernden Vorstellungen. Was wäre, wenn ich könnte, wie ich wollte. Auf hochdeutsch hieß das: „Sofort die ganze Welt ficken, von hinten wie von vorne, und wenn’s vorbei ist, am besten sofort noch mal.“ Gilles Deleuze hätte da sicher mitgemacht.
H.-N.J.: Was meinst du mit den Mitteilungen aus der Zivilisation?
J.K.: Nach dem Attentat vom 11.September wird uns der Begriff der „Zivilisierten Welt“ in einer neuen Dimension eingebläut, und zwar in ihrer unverblümten Arroganz und Anmaßung.
H.-N.J: Mit was hast du dich insbesondere befasst, zunächst und auch später?
J.K.: Beim Erkunden der französischen Bewegung traf ich auf Verbündete im Geiste. Sie hatten etwas angeschoben und den bürgerlichen Kunstbegriff aufgebrochen und erweitert. Der experimentelle Wahnsinn zielte mitten ins bürgerliche Nervensystem und auf die Kunst selbst in ihrem selbstverliebten Status. Philosophie, Kunst, Literatur, Theater, Film, miteinander vernetzt, sangen gemeinsam das unharmonische Lied auf Menschheit und Kunst. Das Echo hören wir heute noch. Belmer und Moliner, die damals kaum jemand wahrnahm, Dalí, Picabia und ihre Attitüden, Duchamp und sein vielzitiertes Schweigen beeindruckten mich, aber das auch im Verbund mit Artaud, Klosowski, Bataille, Bunuel, Huysmans, Genet, Céline, u.a.
H.-N.J.: Wie nahmst du Bataille, Bunuel, Klosowski, Genet oder Celine wahr?
J.K.: Am aufregendesten empfinde ich bis heute ihre Radikalität und ihre künstlerischen Strategien, die bewusst in die endlose Wüste unserer Existenz zielten. Im Zentrum meines Interesses stand bei Bataille, Klosowski und Genet deren Auseinandersetzung mit dem Uneinlösbaren unserer Triebstruktur, die unterschiedlichen Denkmodelle und Angebote von Seinsmöglichkeiten. Lust und Ende oder, wie Georges Batailles sagt: „Das Verlangen wird uns verzehren – oder sein Objekt wird aufhören, uns zu erregen.“ Vor einigen Jahren entdeckte ich Batailles „Das Blau des Himmels“. Was für ein Begehren und Entleeren! Ein großartiges Buch! Zur selben Zeit in Michel Houellebecqs „Kampfzonen“ vertieft, fragte ich mich, warum dieses Buch diese Aufregung provozierte? Bei aller Güte. Bei Klosowski interessierte mich über die Schriften hinaus besonders sein bildnerisches Werk. Gachnang machte, glaube in den 70ern, eine große Ausstellung in Bern, und Klosowski und sie, das Objekt seiner Begierde, waren anwesend. Da waren dieser kleine Mann und diese große Frau, die sich in den Zeichnungen wiederfanden. Das war die erste bewusste Begegnung mit seiner Kunst. Natürlich gefielen mir auf Anhieb seine inhaltliche Struktur und das inszenierte Selbst. Darüber hinaus machte die Spannung des Erotischen die Bilder so faszinierend. Sie wirken so klassisch und erscheinen auf den zweiten Blick so schön falsch oder unbeholfen. Das alles macht sie gerade in ihrer voyeuristischen Inhaltlichkeit so authentisch. Diese Authentizität finde ich ebenso bei Céline und Genet. Célines „Reise ans Ende der Nacht“ oder „Tod auf Kredit“ haben der Literatur einen unvergessenen Schub verpasst. Wunderbar, wie er mit Sprache umgeht. Dieses Stakkato seiner nie zuende gesprochenen, sich herumtreibenden Sätze klingt immer noch so stark in meinem Ohr nach, dass ich es höre, wenn ich nur daran denke. Jedenfalls haute mich das regelrecht um. William Gaddis führte ein anderes Geschwindigkeits- oder Realitätsprinzip ein, nämlich ein fast endlos dialogisches, mit dem er das unendliche Gelaber der Welt empfindlich traf. Genet, selbst ein Gescheiterter, ein Ästhet der Ränder, alles in allem das Ohr der Unerhörten, führte, wie niemand vor ihm, mit einer Wucht und Poesie die Mörder, Diebe, Stricher, Nutten und andere Randgänger in die Literatur ein. Sein poetisches Alphabet der Schwulen, das heißt, die queere Ästhetik in seinen Büchern zeugt von einer unvergleichbaren Schärfe und Schönheit. All diesen Künstlern ist eins gemein: Es handelt sich um singuläre Erscheinungen und Grenzgänger, dazu bereit, an die Schmerzgrenze vorzudringen. Die Erfahrung mit ihnen bescherte mir neben Energie auch mehr Selbstbewusstsein.
H.-N.J.: Welche Bilder von Bellmer, die dir etwas bedeuten, fallen dir als erstes ein?
J.K.: Natürlich seine filigranen „De Sade-Zeichnungen“ sowie seine Puppen und die kolorierten Fotos dazu. Wie sich das gehört, imitierte ich während des Studiums eine Zeitlang seinen Duktus, um meine eigenen kleinen Schweinereien an– und abschwellen zu lassen. Bei Moliner sind es die Fotoarbeiten. Die Selbstdarstellungen wie „Jambes“. Die Torso-Reihe. Die Gaude-Michets. Wenn man so will, seine durch Kunst öffentlich gemachten Obsessionen und die ganz andere Anwendung von Fotografie. Nun bin ich kein Mann der Obsession, wenngleich die Kritik der 70er durch das Private meiner Tagebücher oder das Ich als Darsteller mehrerer Geschlechter stark ins Schleudern kam. Bei meiner Arbeit über Sexualität beflügelten mich beide Figuren. Sowohl medial als auch gedanklich. Bei beiden steht ein hoher Lustfaktor im Vordergrund, der das ewige Schuld- und-Sühne-Programm liquidiert. Was zählt, sind das Verlangen und seine Niederschrift in Bildern. Hemmungsloser Lebenswille trifft hemmungslosen ästhetischen Willen. In den dunklen, kleinen und dadurch so intim anmutenden Fotos von Moliner riecht es nach Realität. Aber im stilistisch oft gebrauchten Lichtkegel schwingen Illusion und jähes Ende mit. All das trifft auch bei Bellmer zu: Es wird medial und gedanklich aber mehr von sich geschoben. Mit der Puppe verbindet sich die Illusion, er, Bellmer, habe mit ihr alles gemacht, was er wollte. In den Torsi wird sie zum Geschlecht. Ähnlich, aber anders in seinen Zeichnungen. Der Körper, bei ihm entindividualisiert, ist nur noch ein Wunschkörper aus Linien und Löchern, Sexualität und Lust, Praxis und Wunschvorstellung. Alles wird Öffnung. Speichel. Sperma. Pisse. Scheiße. Schweiß. Und Tränen. Alles fließt lust- und schmerzvoll an den Liniengewimmel und Konstrukten seiner Zeichnungen entlang. Wesentlich bei beiden Künstlern war für mich außerdem, dass sie sich nicht wie ein Teil der Surrealisten an Traum, Schlaf und automatischen Gebilden verausgabten. Vielmehr verbrauchten sie sich an ihren Wünschen im positivsten Sinne.
H.-N.J.: War Malerei als Medium von vornherein ausgeschlossen?
J.K.: Nein. Aber sie war nicht zwingend, und ich hatte den Eindruck, dass sie sich etwas überstrapaziert an sich selbst rieb. Die ewig gleichen Sujets wie Landschaft, Akt, Stilleben oder Portrait stimmten mich selbst bei bester Umsetzung nachdenklich. Da ich mich aber ohnehin, bildlich gesprochen, eher aus dem Atelier heraus bewegte, stellten sich mir andere Fragen und Herausforderungen.
H.-N.J.: Als was verstehst du dich? Vermutlich weniger als Fotograf denn als Performer?
J.K.: In erster Linie als einen intermediären Künstler oder Aktionisten. Die unterschiedlichen Medienbezeichnungen wie Foto, Performance, Sprache, Video oder Körper werden zugunsten der jeweils zugrundeliegenden Intention nutzbar gemacht. Ihre jeweils eigene Sprache sowie die aus ihrer Geschichte abgeleiteten Bedingungen lassen mir einen größeren Möglichkeitsraum, um meine Bildvorstellungen und meine Ahnungszustände zu formulieren. Mehrsprachig suche ich im jeweiligen Medium seine Stärke und übersetze seine Alltagssprache durch spielerischen, experimentellen, strategischen sowie geistigen Umgang in Kunst-Sprache.
H.-N.J.: Obgleich kein Fotograf, gehst du gleichwohl mit Fotografie um.
J.K.: Primär Künstler, beute ich die Fotografie als Medium zugunsten meiner Vorstellung oder meines jeweiligen Konzepts aus. Ich mache seine ihm eigenen, historischen, technischen und ästhetischen Gegebenheiten für meine Bildern nutzbar. Es geht um den immer noch waltenden Glauben an die Wahrheit des Fotos, um sein fast immaterielles Erscheinungsbild, seine Geschwindigkeit, seine Verkörperung von Zeit, Tod sowie um die technischen Möglichkeiten. Meine Bilder findet ein Fotograf nicht in seinem Sucher, denn die sichtbare Welt stellt sie nicht zur Verfügung. Ich denke und inszeniere das Unsichtbare, verführe den Betrachter dazu, auf den gewohnten Schein zuzugehen, um beim Betrachten vor oder in etwas Anderem zu erwachen. Der Fotoapparat erlaubt mir, eine Vorstellung Bild werden zu lassen.
H.-N.J.: Hast du dich mit Fotografie intensiv befasst?
J.K.: Nein, jedenfalls auf keine besondere Art und Weise. Sie, wenn auch nie mein vorrangiges Interessengebiet, begegnete mir aber auf Schritt und Tritt. In Werbung, Zeitschriften oder Büchern. Als Dokumentation, Reportage, Akt oder Architekturfotografie. Und nicht zuletzt in den Fotoalben der Familien. Sie ist seit ihren Anfängen allgegenwärtig. Als Bildmensch reiße ich mir hier und da besonders sensationelle Fotos heraus. Bei dem Augenfutter, diesen Reizungen handelte es sich überwiegend um wissenschaftliche, erotische oder gewalttätige Bilder. Ist es das nicht, so weisen sie formale Sensationen auf. Meine in der Bundeskunsthalle in Bonn gezeigte Rieseninstallation „Antlitze“ ist eins der wenigen Resultate dessen, wo das gefundene Foto, als Langzeitprojekt geplant, direkt im Werk auftaucht. Die Allgegenwärtigkeit des Fotos ließ mich früh erkennen, wie ich für mich mit dem Medium umgehen könnte.
H.-N.J.: Was für Bilder hast du irgendwo herausgerissen?
J.K.: Zum Beispiel die explodierende Challenger, mit ihrem ypsilonartigen Schweif. General Loan erschießt einen Verdächtigen auf offener Strasse, und wir wissen nicht genau, ob die Kugel nicht schon im Kopf steckt. Die Stammheim-Fotos. Irgendwo in der Luft zusammenprallende Fußballer. Stürzende Wintersportler. Abgedrehte Modelle, Stars und Sternchen. Wissenschaftliche Fotos vom Schaf Dolly und andere Pornos. Auch das ganz Banale war wichtig. Mein System des Sammelns ist perfekt. Bestimmte Zeitschriften über eine längere Dauer stapelnd, beginne ich an irgendeinem völlig beschissenen Tag mit Blättern und Herausreißen. Durch diese relativ rasche Wahrnehmung unterschiedlichster, auch überflüssiger Bilder unserer Welt mutiert das Ganze in meinem Kopf zu einer Riesencollage, zu einer einzigen Enzyklopädie des Wahnsinns. Man könnte auch sagen, die Welt stellt sich in dem Augenblick als gequirlte Scheiße dar. Nach geraumer Zeit werfe ich sie bis auf ganz wenige, die wenig später ebenso verschwinden, weg. Sie haben Wirkung hinterlassen, und einige Ikonen sind gespeichert. Viele mir bekannte Kollegen tun das. Jeder auf seine Art. Außerdem sammle ich Wörter, auch Begriffe wie „finaler Rettungsschuss“, „Kolalateralschaden“, „in der Tat“, „Schnittstelle“, „ein Stück weit“, „Aktienperformance“, „Unternehmenskultur“ oder „defensiver Angriffskrieg“. Also Wörter, die, irgendwann auftauchend, aus dem Boden gestampft werden, um etwas zu besänftigen, zu beschönigen oder zu füllen. Sie werden auch verwendet, um aus Niemanden auch Einen zu machen. Manchmal, wenn’s zwingend wird, finden sich solche Ausflüge oder ein Rest davon in meiner Arbeit wieder.
H.-N.J.: Ich wüsste gerne mehr zu deinem Umgang mit Fotografie aufgrund der Erfahrung ihrer Allgegenwärtigkeit, bitte!
J.K.: Ihr massenhaftes und alltägliches Aufscheinen hat unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung von Welt aufs Eindringlichste verändert, und der Umgang mit diesen Fotos war ein völlig anderer als der mit Kunstbildnissen. Er war und ist selbstverständlicher. Diese Selbstverständlichkeit und andere bereits erwähnte spezifische Vorzüge wollte ich mir für mein Kunstkonzept zunutze machen. Über das Medium Foto die Distanz zum Betrachter verringernd, will ich diesen dazu verführen, wie gewohnt auf den äußeren Schein zuzugehen, um dann mit meinen Vorstellungen konfrontiert zu werden.
H.-N.J.: Wie kamst du überhaupt auf die Idee, zu fotografieren?
J.K.: Diese psychische wie physische Ausdehnung über die Schwelle des Ateliers hinweg ging Hand in Hand mit einer Ausweitung sinnlicher Wahrnehmung und Praxis. Die Abkürzung dafür ist „Sex and Drugs and Rock`n Roll“. Es verlief parallel zu einem Aktionismus gegen die versteinerte, verstörte und verlogene bürgerliche Nachkriegsgesellschaft und für mich als jungen Künstler gegen einen bürgerlich, viel zu engen Kunstbegriff. Für diese in jeder Hinsicht beschleunigte Lebensqualität und für meine Vorstellungen benötigte ich andere Mittel und eine andere „Übersetzung“. Nach all den Experimenten, die zu einer künstlerischen Entwicklung gehören, entdeckte ich das Tagebuch, die Tageszeichnungen und mit dem ersten Tagebuch auch die Fotografie via Polaroid. „Ich und Ich, erotografische Tagesberichte“ (Umgebungen, Dinge, Situationen) 1969/7. So der Titel einer Arbeit, die zur Giftküche meiner künstlerischen, bis heute unter jeweils anderen Bewusstseinsbedingungen angewandten Strategie wurde.
H.-N.J.: Welche Bedeutung hat aus heutiger Sicht die Erforschung der sexuellen Identität?
J.K.: Die Bedeutung meiner Arbeiten der frühen 70er liegt höchstwahrscheinlich in ihrer Radikalität, mit der sie die soziale Konvention und Kodierung des Geschlechts aufhoben und erweiterten. Sowohl mit meinen zeichnerischen als auch fotografischen Bildstrategien wurden die festgelegten Rollenkodes in Frage gestellt, verwandelt und zu etwas Neuem transformiert. Im Gegensatz zur heutigen Geschlechterdebatte, da alles erheblich offener betrachtet wird und mehr Akzeptanz vorherrscht, wurde ich Anfang 1970 attackiert. Die Überschreitung und Denunzierung gesellschaftlicher sowie wissenschaftlicher Regeln per Bilder, die Grenzen überschritten, waren unerwünscht. Auch die Einführung meines Körpers als Projektionsfläche multipler Identitäten und Geschlechter in die Kunst stieß auf gar keine Gegenliebe. Ich hatte es auch nicht erwartet. Da es im Kern um nichts Schöneres als Sexualität ging, arbeitete und lebte ich damals auf höchster Luststufe. Das geballte Erfahrungspotential von sinnlicher Wahrnehmung und notwendiger Reflexe mündete in dieser Symbiose von Kunst und Leben und deren zukunftsträchtigen Ausdehnungen.
H.-N.J.: Was verstehst du im Zusammenhang mit dem Diskurs über sexuelle Identität unter einem Transformer?
J.K.: Einen Umformer. In frühen Arbeiten, die diesen Titel unter anderem führen, meint der Transformer denjenigen, der die sexuelle Identität sowohl aufbricht als auch erweitert. Aus meinem/seinem Körper wird lange vor der plastischen Chirurgie fröhlich künstlerisch alles das gestaltet und expandiert, was weit über das Reale hinaus sein könnte. Vorausgegangen waren meine „Tageszeichnungen“, die sich auf andre Weise des Themas bemächtigt hatten. Ich würde die Verwandlung nicht allein auf die Sexualität beschränken, denn sie findet sich in vielen späteren, sich mit dem Anderen im Selbst auseinandersetzenden Arbeiten wieder.
H.-N.J.: Wie sahst du anfangs die Mann-Frau-Ambivalenz?
J.K.: Ambivalent war für mich eher das Manns-Bild. Das „ewig Männliche“. Sein Vortrag der Stärke. Der Mann als Hüter der Familie, des Staates, der Kirche, des Militärs oder des Fußballvereins. Das Sich-nur ja-keine-Blöße-Geben. Ich hatte bereits früh auch diese anderen in mir entdeckt und zugelassen, wodurch die Persönlichkeitsstruktur bereichert wurde. Heute begegnen mir allerdings manchmal Frauen, welche die genannten männlichen Attitüden zwecks Karriere und Erfolg verinnerlicht haben. Das trübt meinen Blick auf das Weibliche.
H.-N.J.: Mal im Ernst gefragt, verstehst du dich eigentlich als Feminist?
J.K.: Nein.
H.-N.J.: Aber du hast dich mit Feminismus auseinandergesetzt?
J.K.: Natürlich befürwortete ich die gesellschaftspolitische und kulturelle Diskussion. Da meine Mutter Geschäftsfrau war und nebenbei vier Kinder noch halbwegs erzogen hat, musste ich das nicht studieren. Ein Teil des Feminismus denunzierte meine Arbeit noch Anfang der 80er als frauenfeindlich, indem sie sich beispielsweise aus dem 15-teiligen Tableau „Das ewig Männliche als ewig Langweiliges“, ein Foto mit nackter Frau herauspickten und plakativ argumentierten. Den Rest gab mir eine Diskussion über Sexualität und Gewalt in der Kunst unter Beteiligung von Alice Schwarzer. Es war so primitiv, dass es für weitere Auseinandersetzungen wenig Anreiz gab. Zur gleichen Zeit sahen Gott sei Dank weibliche Zirkel in Göttingen, Marburg und Berlin meine Experimente in einem anderen Licht.
H.-N.J.: Befasstest du dich mit den Werken von Simone de Beauvoir, beispielsweise mit deren Buch „Das andere Geschlecht“, oder mit der „Geschichte der Sexualität“ von Michel Foucault?
J.K.: Ich lese viel und gerne, um den Blick dieser anderen Kunstform auf die Welt und auch um Übereinstimmungen und Inspirationen zu erfahren. Simone de Beauvoir habe ich nie gelesen. Man darf sich auch nicht zu dem Glauben hinreißen lassen, ich hätte mich mit Feminismus beschäftigt, um mein Projekt anzugehen oder gar zu verdichten. Das gilt auch für meine Lektüre von Bataille, Foucault und anderen. Die eigene Vorstellungskraft und Lust setzen etwas in Bewegung. Im freien Fall von Bild zu Bild wird das Vorhaben gesteigert, um der Vorstellung Gestalt zu geben. Übertreffe ich sie, ist das Unerklärbare geschehen.
H.-N.J.: Deine Auseinandersetzung mit Fragen der sexuellen Identität hat sicherlich mit Verunsicherungserfahrungen zu tun! Was waren die Stolpersteine, die es erforderlich machten, über Identität zu reflektieren? Welche Zweifel bestanden da? Und welche bestehen bis heute fort?
J.K.: Als ich mich Anfang der 70iger mit diesen Themen befasste, handelte ich aus einer inneren Notwendigkeit in einer lustfeindlichen sowie geistig zubetonierten und unflexiblen Nachkriegsgesellschaft. Ich folgte keiner Ideologie oder soziologischen Gebrauchsanweisung. Vielmehr agierte ich lustvoll und subversiv in das bigotte, bürgerliche Schweigen und das alles bestimmende Diktat. Voraus gegangen war dem die spielerische Aneignung des Weiblichen oder des Anderen und damit natürlich die Infragestellung des „ewig Männlichen“ ebenso wie des „ewig Weiblichen“. Alles in allem ging es um die Brechung tradierter, also beschränkter Vorstellungswelten. Der Transformer als Umformer, der die sexuelle Identität sowohl aufbricht als auch erweitert und lange vor der Gender-Debatte künstlerisch interveniert und expandiert. Diese Umformungen beschränken sich allerdings nicht nur auf sexuelle Typologien. Vielmehr werden auch andere gesellschaftliche und kulturpolitische Phänomene dekonstruiert. Bespiele dafür sind Arbeiten wie „Das menschliche Antlitz im Spiegel nervös-soziologischer Prozesse“ oder die 96 im Hamburger Bahnhof hängenden Vermummten. Da werden aus Maskeraden neue Identitäten. Natürlich kenne ich Judith Butler oder Rosalind Krauss, aber die Weichen zu dieser Diskussion wurden früher gestellt, nämlich von Subkulturen und Künstlern unter nicht gerade günstigen gesellschaftlichen Bedingungen. Das machte es naturgemäß so spannend. Heute haben wir eine offene Diskussion, wodurch Wissenschaftler und Politiker das Projekt soziologisch, juristisch, gesellschaftspolitisch und sonst wie weitertreiben. Die Ausstellung im Museum Ludwig in Köln „Das Achte Feld“, die Ende letzten Jahres für weniger Unruhe sorgte, als man annehmen mochte, war auch ein Beitrag dazu, wenngleich Themenausstellungen meist ein schwieriges Feld sind. Die Zweifel an dem Ich bleiben bestehen. Denn wenn ich „es“ denke, bin ich schnell bei „Mehreren“, wovon einige in Form existentieller Botenstoffe meine bisherige Arbeit bevölkern. Die Zulassung der „Mehreren“ oder das Spiel damit ist ja vielleicht das, was eine gelebte Person ausmacht.
H.-N.J.: Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt dieses Fragenkomplexes: Wie gingst du eigentlich mit den Angriffen gegen dich und deine Kunst um?
J.K.: Ich war mir bewusst darüber, was ich machte und dass ich mit keinem breiten Einverständnis zu rechnen hatte. Doch die vorhersehbaren negativen Reaktionen jeglicher Art hielten mich nicht davon ab, meiner Spur zu folgen. Meine Konzepte wurden öffentlich und auch diskutiert, das war vorrangig für mich. Bei den wenigen Käufern und Interessenten damals war auffällig, dass Frauen einen leichteren Zugang, also weniger Berührungsängste mit meiner Kunst hatten.
H.-N.J.: Ich erlaube mir an der Stelle einen kleinen Gedankensprung, um mein kleines Fragespiel noch in eine andere Richtung zu treiben: Was verstehst du unter der Symbiose von Kunst und Leben? Sind dir in dem Kontext Oscar Wilde oder Andy Warhol wichtig?
J.K.: Wir sprechen von Anfang 1970. Die verschiedenen Programme, die du im Auge hast, spielten da nicht hinein. Das eigene entwickelte sich langsam als ein vom Leben diktiertes. Letztlich berufe ich mich auf Nietzsches These „vom erlebten Künstler“, aber nicht als Dogma. Meine Motivation speist sich aus dem ständigen Dialog mit der Welt, in deren Fokus sich der Mensch eine kleine Weile zurechtzufinden hat. Die Unzulänglichkeiten, die unauflöslichen Konflikte, die Hoffnungen, Wünsche, Begierden und nicht zuletzt die sich daraus zum Absurden steigernden Handlungsabläufe bilden für mich so etwas wie eine Kunstnahrungskette. Ich kann das Leben nicht von der Kunst abkoppeln.
H.-N.J.: Gab es in dem Zusammenhang Vorbilder?
J.K.: Vor kurzem fragte mich eine amerikanische Kuratorin, ob mich der damalige Feminismus beeinflusst habe? Meine Antwort lautete: Es war eher so, dass ich mich beeinflusst habe, unter völlig anderen Voraussetzungen. Die eigene Vorstellung, die Sexualität, das Begehren und Verzehren, das uneinlösbare Versprechen dessen und das Trotzdem, das sind die wirklichen Auslöser. Gepaart mit Reflexen und Handlungsbedarf, bedingt durch das Diktat dieser Zeit. Das Bild des Mannes, das dieses Diktat hervorbrachte, langweilte mich erheblich. Unter diesem Aspekt könnte man meine Bildsprache und Ästhetisierung der Annäherungen und Transformationen sehen und diskutieren. Einflüsse sind die schon Angesprochenen, die mein gesamtes Denken und Handeln damals erweiterten. Direkte Impulse und Übereinstimmung fand ich im Hinblick auf bildnerische Auseinandersetzung und inhaltlichen Strukturen bei Belmer, Moliner, Beckmann, Bacon, Soutine, Beuys.
H.-N.-J.: Verstehst du deine ersten Performances als Existenzuntersuchungen?
J.K.: Meine Kunst zielt auf eine innere Erfahrung, die durch eigene Entwürfe und Konzepte, durch das Fragen provozierende Leben sowie durch das eigene Alles-wieder-in-Frage-Stellen angereichert werden. Bei all meinen Arbeiten geht es bis heute ums Gleiche, wenn sich auch deren Form veränderte und damit auch das Risiko verschob. Existenz schließt sich da nicht aus. Aber ein Wort wie Existenzuntersuchung klingt mir zu vielversprechend. So, als stünde am Ende der Untersuchung irgendetwas fest. Es handelt sich ja um kein Heilsversprechen. Wir sprachen anderswo über die Bewegung aus dem Atelier heraus aufgrund der Suche nach weiteren Ausdrucksmöglichkeiten, die das Tafelbild überwinden. Alles entwickelte sich für mich logischerweise wie glücklicherweise aus meinen fotografischen, auf Konzepten beruhenden Experimenten. Die Body-Art hatte ich ja bereits mit aus der Taufe gehoben. Jedoch war der Zugang zum Publikum nach wie vor ein distanzierter. Happening und Fluxus, die mir persönlich zu unterhaltsam und witzig daherkamen, hatten das Publikum mit einbezogen. Der Wiener Aktionimus interessierte mich von allen Bewegungen am meisten. Da gab es, was Reduktion und Körpereinsatz anging, eine Nähe zu Brus und Schwarzkogler. Auch ich hoffte auf einen direkten Zugang zum Betrachter per künstlerische Direktmitteilung. Jedoch sollte sich diese, wie in meinen übrigen Arbeiten, mit den Grundstimmungen menschlicher und gesellschaftlicher Codes auseinandersetzen und darüber hinaus Konventionen attackieren. Der Reiz an dem, was mir vorschwebte, lag in der direkten Vermittlung meiner Idee. Ich wollte Kunst den Rezipienten direkter erfahrbar machen. Im Zentrum meiner Performances stehen Ort, Zeit und das eigene Ego als Akteur. Der temporale Rahmen ging stets von einer zumutbaren Dauer zwischen zwanzig und dreißig Minuten aus. Die Ebenen des Körpers als handelnder oder als Sprachrohr werden von Bildern oder Sounds durchkreuzt und reichen bis hin zu installativen Konstrukten, die den Grundton der Performance entgegenlaufen oder ihn ironisch synchronisieren. Bei einer solchen Live-Performance, die es auf direkte Konfrontation angelegt ist, so dass Künstler und Autor als leibhaftiges Gegenüber auftreten, wird dem Betrachter als Erlebender eines Ereignisses eine direkte Identifikationsmöglichkeit zuteil. Emotionalisiert, wird er dank meines meist durch Minimalismus und Aggression gestützten Vortrags irritiert.
H.-N.J.: Wie siehst du das Verhältnis von Performance und Fotografie?
J.K.: Da besteht kein Verhältnis. Da ich sowohl in meinen Performances agiere als auch in den meisten Fotoarbeiten als Material präsent bin, verwechselt sogar die Kunstwissenschaft manchmal die Begriffe. Es sei hier betont, meine Live-Performances entspringen dem Wunsch nach direkter Konfrontation, manchmal auch nach Auslotung eigener Belastbarkeit. Sie resultieren inhaltlich überwiegend aus vorangegangenen Werkkomplexen, erscheinen je nach Wille demonstrativer, meist durchsetzt mit dem nötigen Maß aggressiver Poesie. Mehr als dreimal habe ich keine aufgeführt. Das zweite und dritte Mal als eigenes Korrektiv. Weitere Aufführungen würden die Sache meines Erachtens verflüssigen. Wenn ich dann ich zum Schauspieler werden würde, der sich wiederholt, so wäre das für das von mir Beabsichtigte geradezu tödlich. Übrig bleiben, wenn zulässig, ein Videodokument und eine kleine Fotodokumentation, die in etwa den zeitlichen Rahmen und dramaturgischen Verlauf zeigt. Meine konzeptionelle und inszenierte Fotografie haben nichts damit zu tun und völlig andere Voraussetzungen. Hier geht es, - übrigens schon lange vor der Performance, also vor 1970-, nur ums Bild. Die Fotografie als Medium machte ich mir dabei aufs vielfältigste zunutze. Meine diesbezüglichen Bildsysteme versuchen innere Bilder zu entwickeln. Bataille spricht von der >Inneren Erfahrung<. Durch die sichtbare Welt hindurch entdecke ich sowohl dazwischen als auch dahinter Erfahrungsräume sowie Ahnungszustände, die ich in meine Bildvorstellungen übersetze und per Fotografie einfriere. So entstehen Bilder, Sequenzen, Tableaus und Räume. Im besten Fall flüstern sie und teilen so etwas über die Fragen unseres Daseins mit. Die Welt hängt immer mehr aus sich heraus, und wir aus ihr, so dass ich bei meiner Konstitution um den melancholischen Kunst-Blick gar nicht herumkomme. Die inszenierten Fotos, die nur als Bild argumentieren, sind bildgewordene Vorstellungskraft und Konzept. Eben kein Abbild oder Dokument der nur sichtbaren Welt, sondern außerdem das Davor, das Dazwischen und das Dahinter. Alles in allem Gedankenbilder des Unsichtbaren.
H.-N.J.: Apropos Performances, hast du dich mit den Arbeiten von Bruce Nauman, Chris Burden und Mike Kelley befasst? Siehst du Parallelen zu dem, was sie machten oder noch machen ?
J.K.: Nein. Von den Amerikanern hielt ich Bruce Nauman und Chris Burden für die interessanteren Performer. Sie schienen mehr europäisch geprägt im Gegensatz zu anderen Akteuren, die lange Zeit nicht aus dem Dunstkreis des Happenings waren oder zu sehr von einer „holywoodesker“ Oberfläche zeugten. Und Mike Kelley, er interessierte mich nicht so sehr, was vielleicht auch ganz einfach daran liegt, dass seine Arbeit als Performer mir nicht so präsent ist, weil sie in Europa damals, als er anfing, auch nicht so gegenwärtig war.
H.-N.J.: Wenn jemand so stark den eigenen Körper ins Spiel bringt, habe ich den Eindruck, dass er die Reibung mit sich sucht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass er lebt. Kannst du mit dem Verdacht etwas anfangen?
J.K.: Für mein gesamtes Tun kann ich mit dem, was du da sagst, etwas anfangen. Wir können es auch „Generalreibung“ nennen, die sich auch losgelöst vom Körper ereignet. An dem lassen sich bestenfalls meine Verfallsdaten ablesen. Durch irgendetwas bin ich dahin gekommen, über das Unerklärliche nachzudenken, was zur Schöpfung immer neuer Bildmomente oder Bildfragmente führte, die sich als Annäherungen an die Fiktion unseres Lebens verstehen lassen. Letztlich ist dies eine Reibung an sich selber ebenso wie an den mehr oder weniger objektiven Gegebenheiten. Solange das halbwegs funktioniert, lebt es sich auf hohem Niveau. Der diesbezügliche Stau macht überflüssig, und je länger er dauert, kommt es einem so vor, als sei man nicht mehr existent. Wissend, dass die Staus oder Blockaden immer wieder auftauchen, kann man sich der damit verbundenen Leere nicht entziehen, wobei ich die daraus gewonnenen Erkenntnisse – ganz nah bei Null - nicht missen möchte.
H.-N.J.: Du ziehst die Schwarzweißfotografie der Farbfotografie vor. Weshalb? Weil sie abstrakter ist?
J.K.: Das Schwarz-Weiße oder das „Farbig-Monochrome“ nimmt etwas von dem Naturalismus zurück. Im Bild werden dadurch die Bildgegenstände auf ihr Wesentliches reduziert. Es gab aber auch Strategien meinerseits, vermehrt in den 70igern, die auf die Farbe setzten. Sie diente gewissermaßen als Lautverstärker für die „Transformer“, für „Dr. Müllers Sexshop“ oder für Fotoinstallationen wie „Ewig Dein“ oder „Der Lauf der Dinge“ etc.. Der Einsatz solcher Mittel oder Techniken muss immer bild- und ideestützend wirken. Ansonsten verkommt es zur reinen Dekoration.
H.-N.J.: Bist du mit Hilfe der Kunst, wie du sie verstehst, auf der Suche nach einem Zusammenhang? Oder zerfällt die Welt, in die du geworfen bist, vor deinem inneren Auge in lauter Fragmente? So, dass du im Sinne von Camus, die Ganzheit anstrebst, aber im gleichzeitigen Wissen, dass es das doch nicht gibt?
J.K.: „Nichts ist, wie es scheint, und wo es scheint, da ist nichts.“ Alles ist womöglich nichts anderes als eine Fata Morgana. Eine Illusion. Virtuell. Mein Leben ist doch letztendlich ein improvisatorisches. Ein leicht nervöses Hin-und-Hergeschiebe. Bestimmt nichts Gewisses. Eher im Zentrum bleibende Fragen, derer ich mich durch meine Arbeit immer wieder zu vergewissern versuche. Ab und zu glaube ich den Antworten näher gekommen zu sein. Aber sicher hat Camus mit seiner These Recht. Ich könnte es auch so ausdrücken: Ich bewege mich zwischen Sein und Nichtsein fragend durch mein Tun. Ich zitiere an der Stelle gerne Fernando Pessoa, der sagt: „Die einzige, eines höheren Menschen würdige Einstellung ist, das beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die er als nutzlos erkennt.“
H.-N.J.: Interessiert dich die Fotografie eigentlich im allgemeinen? Was an der Fotografie ist Kunst? Oder was macht sie dazu?
J.K.: Wir wissen, dass Fotografie, Film, Video, die elektronischen Medien und vieles mehr künstlerische Medien sind oder sein können. Zum sogenannten Kunstwerk macht sie der Betrachter. Alles, was wir bei einem andersartigen Kunstgebilde hinterfragen, trifft am Ende auch auf das Foto zu. Es genügen, wie bei anderen Medien auch nicht, die sogenannte handwerkliche Meisterschaft oder der schöne Schein. Das souveräne Kunstwerk gibt keine schlüssigen Antworten, dient niemandem und folgt auch keiner Ideologie. Es wirft Fragen auf und stellt sich selbst und den Künstler immer wieder in Frage. Es ist so nutzlos wie frei. Von allem Nutzbringenden wirkt es im besten Fall als poetisches Gegengift. Aber das wäre der Idealfall. Wir haben einen gefräßigen Kunstmarkt, der so, wie sich unsere westliche Welt darstellt, dem Diktat der Gewinnmaximierung unterworfen ist. Nicht alles, was der Markt verschlingt, ist letztlich Kunst. Wenn aber in unserer ästhetisierten Welt alles als Kunst durchgeht, löst sich unser Kunstbegriff in einer neuen Ordnung auf. Ich rechne gleichwohl mit ihrer erwiesenen Resistenz.
H.-N.J.: Was war deine damalige und was deine heutige Auffassung von Fotografie?
J.K.: Sie ist sich gleich geblieben. Der momentane Stellenwert im Kunstbetrieb, einer Fotografie, die übers Eins zu Eins eines Dokuments, einer Reportage oder einer kulturanthropologischen Sicht selten hinausgeht, ist untrennbar mit der amerikanischen Sicht auf das Foto an sich verbunden. Für die noch immer junge Nation namens Amerika und ihre ebenso junge Geschichte war die Fotografie ein Gedächtnis. Da die Kunst sich klar an Europa orientierte, bekam das dokumentarische Foto etwas Identitätsstiftendes, eine kulturelle Gewichtung und einen entsprechenden Status. Das Foto wurde völlig anders wahrgenommen, viel früher und zielstrebiger gesammelt und gewertet. Wenn heute auf dem Markt, und ganz besonders in den USA, ein bestimmter Mainstream von Genre-Fotografie gefeiert wird, so hängt das mit diesem eben genannten Blick und Code, also mit einer kulturellen Übereinkunft zusammen. 1986 beteiligte ich mich an einer Ausstellung in San Francisco im „Museum of Modern Art“ „Behind the eyes“. Daran beteiligt waren deutsche intermediäre Künstler wie Blume, Gerz, Ecker, Böhmler, u.a.. Kuratiert wurde sie von Van Deren Coke. Dieser Doyen der amerikanischen Fotografie sprach in dem Zusammenhang vor amerikanischen Sponsoren und Sammlern über die Ausnahmestellung, den Innovationsschub, über den Einfluss unserer Fotokunst, eben über die bildenden Künstler, die dem Medium Foto eine andere Dimension eröffnet hätten. Es kam zu einem Eklat. Der honorige Mann, obgleich im Recht, wurde für seine Ausführungen mehr als nur gerügt. Unsere Konzepte und Bildstrategien sprachen die überwiegend am dokumentarischen oder am Foto an sich gewachsenen Gemüter nicht an. Oder die Interessenlage ließ es einfach nicht zu.
H.-N.J.: Warum hat die Fotografie diesen enormen Stellenwert?
J.K.: Lange Zeit hatte sie keinen besonderen, und nun hat sie wie andere Medien auch denjenigen, den sie redlich verdient. Früher musste man zwischen schlechter und guter Malerei und heute auch noch zwischen guter und schlechter Fotografie unterscheiden. Vielleicht zielt deine Frage aber mehr auf den Boom eines speziellen Fotomarktes, wo sich ein Trend herausgeschält hat, der zur Zeit von Sammlern und Museen sowie Auktionären besonders geliebt wird. Wie zu hören ist, wenn man nachbohrt, weiß keiner so recht, warum. Schaut man sich diese Fotos an, findet man überwiegend bekannte Sujets dokumentarischer Fotografie. Vielleicht ein bisschen schöner und vom äußeren Erscheinungsbild her ans Tafelbild angelehnt. Keine Herausforderung an Seh- und Denkgewohnheiten, nichts Beunruhigendes oder Aufregendes. Ganz zu schweigen von neuer oder subversiver Sicht. Allenfalls beste Genrefotografie. Solche Trends und Phänomene kennen wir aus der Malerei. Warum das so ist, musst du andere fragen. Sicher spielt eine Rolle, dass die Bildmotive so beschaulich wie problemlos sind. Still ruht der See.
H.-N.J.: Noch einmal nachgebohrt: Hat die Popularität der Fotografie nicht auch mit ihrer Nähe zu der durch Film und Fernsehen beeinflussten Wahrnehmung zu tun?
J.K.: Natürlich ist unser Alltag von medialen Bildern geprägt. Wir sind umzingelt von Zeitschriften, Film, Fernsehen, Computer, Handys. Selbst dem nächtlichen Flaneur leuchten diese überall präsenten Bilder entgegen. Das hat sowohl unsere Wahrnehmung als auch bestimmte Ästhetisierungsvorgänge positiv verändert. In ihrem abermillionenfachen Auftauchen erzeugen sie allerdings wenig Neues. Stattdessen wird da die Wiederholung des Immergleichen zelebriert. Hier beginnt die Beeinflussung, die soweit geht, dass ein großer Teil der Menschheit, wenn er seine im Hirn abgelagerten Bildspeicher abfragt, glaubt, vieles zu kennen. Selbst dann, wenn er irgendwo ankommt, wo er noch niemals war, holt ihn das Déjà-vu ein. Er glaubt, bereits dort gewesen zu sein. Er halluziniert diese Oberflächen, ohne je etwas erkannt, geschweige denn erlebt zu haben. Was die Popularität des Fotos angeht, so ist durch ihre allgegenwärtige Präsenz ein viel natürlicherer oder zwangloserer Zugang gegeben als zu anderen Kunstgegenständen. Das sagt aber nichts über die Qualität oder den tieferen Sinn bestimmter Arbeiten. Die gekonnte Abbildung des Realen, -seien die von allen gesuchten und auch gefundenen Orte noch so spektakulär-, langweilen doch sehr schnell. Der Reflex bleibt immer gleich niedrig. Motiv + handwerkliches Können = brillantes Foto. Eine hohe Versiertheit, gegenständlich zu malen, führt ja auch nicht zwangsläufig zu umwerfenden Ergebnissen. In ihrem geistigen Mehrwert stufe ich beides gering ein. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Aber wie wir wissen, nutzen sich solche Hypes gnadenlos ab. Gerade können wir beobachten, wie selbst die schlichtesten Fotos, die auf den Kunstmärkten hingen, als Malerei getarnt, wiederkehren und reißenden Absatz finden. Das sind die Gesetze eines sich verselbstständigenden Marktes, der vermehrt gewünschten Konventionen folgt, die sich neokonservative Gesellschaften wünschen.
H.-N.J.: Nun betreibst du, um es einmal salopp zu formulieren, mit deiner Fotografie den Ausstieg aus dem Konsens der fotografischen Wahrnehmung? Geschieht das bewusst oder von selbst?
J.K.: Sicherlich gibt es einige richtige Fotos in den falschen von der Welt. Ich kann dem Rohen aber weniger abgewinnen als dem Gekochten. Ich transformiere meine Erfahrungen und Fragen zu Bildräumen, die die eben angesprochenen Sehgewohnheiten unterlaufen, um im besten Fall der Wirklichkeit ein bisschen näher zu kommen.
H.-N.J.: Wenn von fotografischer Wahrnehmung die Rede ist, so ist die Diskussion um deren Wahrheit eine recht komplizierte und komplexe. Kann man heute überhaupt noch einen Begriff wie Wahrheit des Bildes in den Mund? Und wenn: Was heißt das? Und: Was kann das sein in einer Zeit, da der Glaube an die dokumentarische Wahrnehmung schwindet?
J.K.: Der Fake des Dokumentarischen zieht sich durch die gesamte Fotogeschichte und ist heute durch die Möglichkeiten der elektronischen Medien auf seinem Höhepunkt angekommen. Da mehr oder weniger jeder einen Apparat mit sich herumschleppt, erreichen uns die interessantesten Bilder von fest installierten Überwachungskameras, von Soldaten und Touristen, also von Laien, die im richtigen Moment vor Ort waren. Siehe: 11. September. Auch Tsunami oder der Irak-Krieg sind da Beispiele. Ob es so etwas wie Wahrheit und Gerechtigkeit überhaupt gibt, darüber zerbricht sich die Menschheit seit ihren Anfängen den Kopf. Kunst versucht immer wieder, über die Oberfläche des Realen hinaus und darunter zu schauen. Sie will uns beglücken, irritieren, verstören und da Fragen stellen, wo man sie aus Bequemlichkeit oder aus Angst nicht stellt.
H.-N.J.: Ist Cindy Sherman als Fotografin, mit der du ja mehrmals zusammen gezeigt wurdest, für dich von Interesse?
J.K.: Die äußre Nähe ergibt sich durch die Form der Selbstdarstellung, durch das Medium und das Arbeiten an oder über multiple Identitäten. Der gravierende Unterschied zwischen uns, der meist übersehen wird, ist der gedankliche. Ich erwähnte das vorhin in einem anderem Zusammenhang – das Double. Sie argumentiert mit der Nach-Inszenierung des Vor-Bilds oder mit der Darstellung der Darstellung. Schlüpft in Rollen, ohne sie zu bewegen, und übernimmt sie. Alles bleibt ein gelungenes, mediales Täuschungsmanöver. Ich hingegen erfinde und erweitere multiple und fiktive Identitäten nicht nur über die Geschlechterbeziehung. Ja, ich pflanze diesen Virus auch in andere Mensch- und Weltzusammenhänge hinein. Dabei den eigenen Bildern mehr trauend, bezeichnete ich meine Bildvorschläge auch schon einmal als Gegenvorschläge zu dem, was uns den Blick verstellt, nämlich zu dem unzähligen Informationsschrott und massenhaften Bildersalat.
H.-N.J.: Hast du dich mit Theorien der Fotografie befasst? Etwa mit Jean Baudrillard, Susan Sontag oder Roland Barthes?
J.K.: Habe ich, auch mit anderen. Ohne arrogant erscheinen zu wollen, muss ich doch gestehen, dass das Meiste mir bereits aus meiner 30jährigen Bildpraxis bekannt war.
H.-N.J.: Was traust du der Fotografie heute noch an Potenz zu?
J.K.: Die Malerei ist tot – es lebe die Malerei. Kaum ist die Fotografie en vogue, schon kommt die Frage nach ihrer Zukunft und ihrem jähen Ende. Sie ist ein Medium wie jedes andere auch, und ich traue ihm da, wo es bekanntes Terrain verlässt, noch eine ganze Menge zu. Sie, gerade erst richtig etabliert, kann nun mit der Auslese beginnen. Ihr erster modischer Trend wird das Schicksal der vielen teilen, die es in der Malerei gab.
H.-N.J.: Du hast einmal gesagt, das wichtigste in deiner Kunst sei Haltung? Was meinst du damit?
J.K.: Da die bürgerliche Moral meine Freiheit einschränkt, wie der Begriff „politisch korrekt“ belegt, fahre ich mit Haltung ganz gut. Gesunde Haltung. Nehmen Sie Haltung an. Stramme Haltung. Gewiss, ein komisches Wort. Ich will etwas zum Ausdruck verhelfen, was eine Übereinstimmung von meiner Kunst und meinem Leben beinhaltet. In Frankreich sagte vor kurzem ein Kunstwissenschaftler zu mir, er sähe in meiner Kunst so etwas wie ein kollektives Gedächtnis und im Zentrum dessen stünde die „Condition humaine“. Vielleicht trifft diese Aussage, was ich meine.
H.-N.J.: Glaubst du an eine Hierarchie der Medien?
J.K.: Es gibt eine Reihenfolge ihres Entstehens und Einsatzes sowie dominierende Phasen des einen oder anderen. Die ersten Felseinritzungen sprechen noch heute eine deutliche Sprache. Eine Hierarchie sehe ich nicht. Jedes Medium hat seine ihm adäquaten, spezifischen Möglichkeiten und dementsprechende Vorzüge. Es kann mir nur darum gehen, für eine bestimmte Arbeit, das optimale Medium einzusetzen oder dasselbe Thema noch einmal mit einem anderen Medium aufzugreifen, da man über andere Bedingungen zu anderen Lösungen und Erscheinungen findet. „Nomadisches Denken“ und „Crossover“, die diesen intermedialen Ansatz meinen, sind nur modische Begriffe für experimentelles Denken und Handeln, die den Künsten seit langem bekannt sind.
H.-N.J.: Apropos nomadisches Denken, welche Rolle spielt Reisen im Kontext deiner Kunst?
J.K.: Meine Reisen sind wie „Reisen ans Ende der Nacht“. Es ist ein Reisen ins Unterbewusste oder in die Zonen eines erweiterten Bewusstseins. Es handelt sich um Erkundungen des eigenen wie des anderen Lebens. Die dort überwiegend gemachten Erfahrungen und Wahrnehmungen bereichern mich und damit auch meine Kunst.
H.-N.J.: Nun unternimmst du ja nicht nur Reisen ins Innere deines Ichs, sondern auch tatsächliche Reisen durch die Weiten der Außenwelt. Früher trieb es dich viel nach Indonesien. Was waren das für Odysseen? Was hast du dort gesucht oder gefunden? Ging es dir dabei auch um eine Befremdung im Sonnenlicht der Selbstvergessenheit?
J.K.: Man sucht immer das Andere und das Fremde. Gleichzeitig schafft man Distanz, was auch zu einer angenehmen Selbstvergessenheit oder Selbsterlöstheit führen kann. Gelernt habe ich, meinen schon vorhandenen Respekt vor den Menschen und ihrer Kultur, noch durch die vor Ort gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse zu vertiefen.
H.-N.J.: Welche anderen Reisen waren spektakulär, wichtig oder bedeutsam?
J.K.: Jegliche Form der Bewegung, auch die geistige, ist mir wichtig, aber nicht um ihrer selbst Willen. Diese Bewegung geschieht zwangsläufig da, wo man sich auf sich selbst einlässt. Im bewussten Handeln und Wollen sowie im Zufälligen liegt eine persönlich, den Horizont wunderbar erweiternde Bereicherung. Nicht ausschließen sollte man in diesem Kontext die drogengestützten Exkursionen ins Unterbewusste, also in Welten, in die kein Bewusstsein dringt. Auch Traumwelten.
H.-N.J.: Nun verbringst du relativ viel Zeit in deinem Haus auf Lanzerote, wo auch Michel Houellebecq einige Zeit verbrachte. Ist das deine Rückzugsinsel? Was hast du dort für dich gefunden?
J..K.: Nennen wir es Rückzugsgebiet, und dabei sollten wir es belassen, sonst ist es keines mehr.
H.-N.J.: Mal so gefragt: Siehst du dich mehr in der Situation eines Sesshaften oder in der Position eines Menschen, dem Sein Unterwegssein bedeutet?
J.K.: Ich hab’s ja eben kurz angesprochen, was Bewegung für mich bedeuten kann. Dies erzählt dir aber ein Sesshafter. Wäre ich das nicht, könnten wir uns nicht über ein mittlerweile recht umfangreiches und vielschichtiges Werk unterhalten.
H.-N.J.: Was löst das Wort „Zugehörigkeit“ bei dir aus?
J.K.: Nicht viel.
H.-N.J.: Wolltest du mit deiner Kunst provozieren?
J.K: Mein Erscheinungsbild im Alltag war schon Provokation für die damalige Gemütsverfassung. Ebenso meine Themen und, wie ich damit umging. Die Summe dessen entsprang einem hohen Maß aus Lust, Befreiungsschlag und innerer Notwendigkeit im Hinblick auf meine endlosen Suchbewegungen. Provokation ist ein legitimes Mittel, auch durch Kunst den Schlaf der Selbstgerechten zu stören. Flankiert wurden meine individuellen Entwürfe in der Kunst von einer im wahrsten Sinne verstärkten Underground-Musik, Godard, Kenneth Anger oder Jack Smith, schlugen andere Filmsprachen vor, und selbst die Literaten kamen aus ihren Schreibstuben und traten vors Mikrophon. Ich sehe mich bei allem Spaß, der zu dieser Umbruchzeit synchron verlief, aber nicht als einen Provokateur um ihrer selbst willen. Vielmehr war im Zentrum der Wille, so viel wie möglich von dieser Spontaneität und Vitalität in die Kunst einzuschleusen. Diese Bilder haben, so heißt es, ihre Kraft behalten. Sie polarisieren noch immer und inspirieren eine jüngere Künstlergeneration.
H.-N.J.: Woher kommt überhaupt dein Widerstandswunsch?
J.K.: So genau weiß ich das nicht. Die mausgraue Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, bot genügend Stoff und Reibungsfläche, etwas zu unternehmen. Das wäre ein Grund für das frühe, sich bis heute haltende Sich-nicht-Anpassen-Wollen und Widerstehen. Ein weiterer Grund könnte das Pausenzeichen zwischen extrovertiert und introvertiert sein. Denn so einer bin ich. Wir sollten der Fachwelt die Klärung überlassen, ob sich auf einem so extremen wie günstigen Nährboden derartige Mestizen herausbilden. Aushalten muss ich da nichts Besonderes. Es ist so und polarisiert. Mir ist klar, dass nicht jeder mich und meine Kunst lieben kann oder soll.
H.-N.J.. Wie siehst du das Verhältnis von Existenz und Kunst?
J.K.: Meine und unsere Existenz in der Welt zu befragen, ist der harte Kern meiner Kunst. Es handelt sich um eine Art Kernforschung. Insofern scheint mir beides untrennbar. Wenngleich nicht täglich künstlerisch tätig, murmeln diese Fragen in mir und durch mich hindurch als immerwährendes Grundgeräusch. Ich kurve um unsere Existenz und die damit verbundenen Fragen, um mich ihrer Nicht-Einlösung zu widersetzen. Ihr Ewigkeits-Status verführt mich geradezu, mich der Welt und Meiner zu vergewissern. Es geht ums Entwerfen von Bildern und Szenarien, die es uns ermöglichen, anwesender zu sein. Ein künstlerisches Dauerverfahren in Form eines Dauer-Dialogs und Monologs. Die Außenwelt wirft Fragen auf. Darüber hinaus interessieren mich die Momente außerhalb dieser Wahrnehmung. Etwas drängt mich dazu, innere Zusammenhänge, die Bedingungen des Lebens, die Strukturen von Welt und Gesellschaft wieder und wieder neu zu denken. Es ist ein Buchstabieren von Welt mittels Poesie. Im Freiraum der Kunst agiere ich autonom, niemandem verpflichtet, bisweilen gegengesetzlich und spielerisch. Es ist ein Handeln hin zu einem sich gestaltenden Selbst, das auf seine Präsenz im Bild zielt. Es ist ein Selbst stets im Hinblick auf das Andere, genannt die Welt. Während Wissenschaft und Philosophie Wahrheiten behaupten, imaginiere ich mit meinen Entwürfen und Metasprachen Fragen, die zu anderen, eben zu neuen Interpretationen veranlassen. Damit ist das nutzlose, von den Gesetzen der Logik befreite Projekt der Kunst nutzbar geworden. Im geglückten Falle wird diese Sisyphus-Arbeit umgewandelt in Erkenntnisartiges, auch Trost ist da vielleicht.
H.-N.J.: Begreifst du dich irgendwo als politischen Künstler?
J.K.: Nicht im Sinne der Stellungnahme zu tagespolitischen oder historischen Ereignissen. Also kein Engagement für oder gegen? Da sich meine Kunst aber seit mehr als dreißig Jahren mit menschlichen, somit gesellschaftlichen Phänomenen und ihren Randbezirken auseinandersetzt, kann man das sicherlich auch politisch nennen.
H.-N.J.: Nun bist du auch Zeichner. Was hat das Zeichnen mit dem zu tun, was du vorwiegend machst?
J..K.: Zeichnen scheint mir die autonomste, freieste und unmittelbarste, künstlerischste Handlungsform neben dem experimentellen Denken. Weit entfernt von notwendigen organisatorischen Abläufen medialer Arbeiten. Ich allein im Raum und vor mir nur das Papier. Vorstellungskraft. Einbildungskräfte. Verschwommene Wahrnehmungsfelder des Unterbewusstseins. Erinnerungsreste und die Lust, etwas ohne großes Konzept entstehen zu lassen. All das fällt mit der vagen Idee, der man Ausdruck verleihen möchte, beim Zeichnen in einem ungezwungeneren, freien Augenblick zusammen. Besonders beim Warmzeichnen, wie ich das nenne, wo ich noch auf der Suche bin nach Übersetzungen und formalen Sensationen, Entscheidungsträgern.
H.-N.J.: Das hat also wenig mit Zufall zu tun!
J.K.: Ja, es ist eben kein Zufall. Die Zeichen, bereits im Kopf, müssen nur noch verarbeitet oder eingesetzt werden. Der Zufall entsteht mehr aus dem Chaos, dem Misslingen und Scheitern. Plötzlich wird etwas, was vorher so falsch schien, wichtig und der Unfall wird so zur Sensation. Wer damit umzugehen weiß, kann damit operieren. Auch bei den aufwendigeren Foto-Inszenierungen arbeite ich mit Missgeschicken. Sich häufig am äußersten Rande bewegend, bringen sie die notwendige Komik, die das Dunkel aufhebt, ohne es ins Lächerliche zu ziehen. Auch bei den zum Einsatz kommenden Geräten wie Foto, Video, Computer und elektronische Medien ist es spannend und künstlerisch wertvoll, sie auf ihre Fehlleistungen und Unbrauchbarkeiten hin zu überprüfen und ihren genormten Nutzen zu unter- oder zu überbieten.
H.-N.J.: Vor Bildern des Anfangs hat man den Eindruck, du wolltest dir etwas von der Seele zeichnen oder dich befreien. Es wirkt wie ein Schrei nach dem wahren Leben im falschen?
J.K.: Aspekte meiner Biografie und gesellschaftliche Bedingungen meiner Aufbruchzeit, sie wurden ja schon angesprochen. Verluste und Unbehagen im verordneten Leben erhöhten die Frequenz. Sie steigern sowohl die Lebensqualitäten als auch die künstlerischen Entwürfe. Der Mensch bewegt und realisiert sich im Spannungsfeld von Sexualität, Beziehungen, Gewalt, Tod, Masse, Macht und Alleinsein, konfrontiert einerseits mit den vielen Ungewissheiten und anderseits mit der Gewissheit seiner Endlichkeit. Fragen nach Identität stehen seit jeher im Zentrum meines Tuns. Wenn sich die Sexualität in den Vordergrund schob, so hing das zunächst einmal mit der Lust des „jungen Künstlers“ zusammen. Gesteigert wurde das Ganze durch die unzähligen Triebverzichts-Verordnungen der Zeit. Ich machte andere Vorschläge oder kleine Weltentwürfe über meine Vorstellung des Selbst. Die Zeichnungen und Zeichen, ihre Symbolik sprechen in Stichworten von der Beziehung zwischen Geschlecht, Sex, Körper und Identität. Vom Gegensatz männlich/weiblich. Von der Aufhebung des männlichen Blicks (Macht). Vom sexualisierten, transformierten, gestalteten Körper und somit von der Annäherung der Geschlechter und einer geschlechterübergreifenden Fiktion. Einzug fanden diese Zeichnungen in die Tagebücher der 70er, die gelebte wie gestaltete Zeit abstrahlen. Die einzelnen Zeichnungen und Zeichen-Sequenzen sind Ausdruck von Erfahrenem und Gewünschtem, sind Sichtbarmachung sowohl sinnlicher Wahrnehmung als auch ihrer Deformation im Beziehungs- und Weltgeflecht. Die synchron zu den Zeichnungen verlaufenden Notizen des Gewesenen sind Hinweise auf Alltägliches und Grenzüberschreitendes. Mal führen sie einen Dialog mit der Stimmungslage der Zeichnungen. Mal bleiben sie ganz bei sich und ihrer alltäglichen Vergangenheit.
H.-N.J.: Mehr über deine Auseinandersetzung mit Tod und Leben, bitte!
J.K.: Das eine ist mit dem anderen verwoben, und über ein elementares, natürliches Interesse daran bin ich motiviert im Hier und Jetzt neue Bildvorschläge zu machen. Wir schreiten fort, machen Fort- und Rückschritte. Die Technologie beschleunigt uns. Aber die Grundstimmung unserer Existenz bleibt. Bei zunehmender Erfahrung und unter sich wandelnden gesellschaftlichen, technologischen oder wissenschaftlichen Bedingungen fällt mein Blick erneut auf mein Motiv - in Splittern. Dieser Blick hat vorher fiktiv Momente berührt, die aber erst jetzt deutlich hervortreten. Als ich 1982 mit der Werkgruppe „Auf leisen Sohlen“ begann, waren die ersten Zeichnungen und Fotoarbeiten mit dem einfachen Symbol Skelett beschäftigt. Wissend, wie abgegriffen und schwierig es sein wird und wie schwer wir uns im aufrechten Gang damit tun. Wir tragen es mit uns. Von einem klassischen Ausgangspunkt erreichte ich Bilder wie „verrückt“, wo sowohl formal als auch bildinhaltlich Klischees wie der Schatten und sein Spender entrückt oder verrückt werden. Spätere Reflexe zu einer bereits bearbeiteten Thematik greifen diese in ganz anderen Bildern auf.
H.-N.J.: Wenn man über Tod und Leben redet, ist die Frage nach dem Verhältnis zur Zeit mehr als nur naheliegend. Welche Rolle spielt der Umgang mit Zeit?
J.K.: Auf die eine oder andere Art durchzieht sie meine gesamte Arbeit. Zeit als eines der letzten wirklichen Luxusgüter. Die Zeit, die uns zur Verfügung steht, macht uns bewusst, wenn wir sie wahrnehmen, dass wir nichts sind. Dazwischen bleiben Momente, Augenblicke, Sekunden, Bruchteile oder Wimpernschläge, die uns herausheben aus der fortströmenden Zeit. In diesen Momenten scheint sie nicht da oder angehalten. Dieses Anhalten ist die vordergründigste Bedingung der Fotografie, die neben meinen persönlichen Intentionen und Bildformulierungen als Zeitlichkeit mitschwingt. Ihr Blick auf Gegenwärtiges genau in dem Augenblick, wo es Vergängliches wird. Die Vergangenheit der Gegenwart als Erinnerung und ihren Tod. Das eben Noch ist schon gewesen. Diese fotografischen Gegebenheiten verstärken bisweilen meine Konzepte, die sich ohnehin mit dem Phänomen
beschäftigen. Zusätzlich lässt die Technik einiges zu, was die bildnerische Reflektion über Zeit befördert. Sandwich, Doppel- und Mehrfachbelichtung, um Körper und Raum in eine andere zeitliche Verfassung oder Ausdehnung zu befördern. Ohne große technische Einlassung scheint bei der „Formalisierung der Langeweile“ etwas von Stillstand und träger Masse, also von der etwas anderen Zeitwahrnehmung sichtbar geworden zu sein. Andere Arbeiten wie „Philosophie der Sekunde“ oder „Ein Moment wie ein Zungenschlag“ fangen mittels der Möglichkeiten des Fotoapparats die Bildlichkeiten des Dazwischen ein. Eben die Tausendstel-Sekunde, die wir mit bloßem Auge nicht wahrnehmen.
H.-N.J.: Wenn man über Zeit reflektiert, so ist das oft ein Zeichen dafür, dass Zeit mal zu einem Problem geworden ist. Erinnerst du Situationen, wo das der Fall ist?
J.K.: Mal vergeht sie zu langsam, mal zu schnell. Wir können uns ihrer Allgegenwärtigkeit nicht entziehen, und niemand weiß genau, was sie ist: die Zeit.
H.-N.J.: Nun erleben wir die Zeit im Banne der Langeweile anders als im Zustand extremer Hektik. Zum Thema der Langeweile entstand ja deine Fotofolge „Die Formalisierung der Langeweile“. Wie kam es dazu?
J.K.: Selbst die grandiosesten Exzesse zeigen irgendwann Spuren der Wiederholung. Um diesen Verschleißerscheinungen zu entrinnen, toppte ich alle flankierenden Maßnahmen und schlingerte an mir vorbei und fast aus mir heraus, so dass ich irgendwann mehr bewusstseinsgetrübt als bewusstseinserhellt mit mir allein im Raum saß und Tage und Wochen den inneren und äußeren Geräuschen zuhörte. Aus diesem Stimmungsgemenge kam die Idee über den Begriff der Langeweile zu arbeiten. Im Fast-Stillstand oder im Zustand des Verrinnens von sinnlos, fast nicht gelebter, kommunikationsloser Zeit dehnt sich der Mensch im Raum und mit ihm die Zeit. In meinem zeichnerischen Tagebuch „Ziemlich“ von 1979/80 vermehrten sich synchron zum Text auch Stimmungsbilder, die durch ihre Gestaltung etwas von den Rändern des Sinnlichen und Wahnsinnigen ahnen lassen. Kalkül bei diesem Buch war aber auch, mit Wörtern im Bild zu experimentieren, die Unbestimmtes und Dehnbares in sich tragen. Ziemlich, mehr oder weniger, sozusagen, vielleicht, etc. Der Schritt von hier bis zur Umsetzung der „Formalisierung der Langeweile“, allerdings mit dem Medium Foto, war kein großer. Das komplexe Thema bedurfte einer besonderen Behandlung. So entstand erstmalig ein projektbezogenes Skizzen- oder Werkbuch. In diese Gruppe mündete die gesamte Bilderfahrung der 70er Jahre. Tableaus, Sequenzen, Großfotos und Triptychen kamen zum Einsatz, um Ernst und Komik des Zustands ins Bild zu rücken. Momentan fällt mir nur Edward Hopper ein, bei dem diese Zeiterfahrung so signifikant wird. Natürlich ganz anders als bei mir.
H.-N.J.: Wie erarbeitest du dir die Ideen zu Werkgruppen wie „Die Formalisierung derLangeweile“?
J.K.. Seit Einsetzen der großangelegten Werkgruppen, also mit der „Formalisierung der Langeweile“ etablierte sich ein anderer Arbeitsprozess. Bis ich ein jeweils dafür geeignetes Studio betrete, vergeht viel Zeit. Man könnte das im Gegensatz zu den meist sehr spontanen 70ern Planungs- und Organisationsphase nennen. Erste Bildvorstellungen, Material- und Gedankensammlungen fließen in Projektbücher. Gesammelt wird erst einmal alles, was eine Rolle spielen könnte. Also: Wörter. Gegenstände. Szenarien. Alltägliches und Fiktives. Dann folgen Skizzen und konkretere Scribbles. Objekte oder Konstrukte werden gebaut, Akteure bestimmt und in das Projekt eingeweiht. Bis zu seiner Realisierung im Studio ist ein Großteil des Projekts konzipiert. Dort das gesamte Material vor meinem geistigen Auge, schaue ich nochmals anders auf meine Beweggründe. Andere Konstellationen werden getestet. Inspirierende Ein- und Ausfallswinkel machen sich bemerkbar. Organisiertes Chaos und König Zufall gesellen sich hinzu. Sie begünstigen die Erweiterung angedachter Motive und formaler Strukturen.
H.-N.J.: Vorhin erwähntest du den Zustand des Wahnsinns. Ein Wort, das du so oft benutzt, dass zu vermuten ist, dass der Wahnsinn ein Zustand ist, über den du mehr erfahren willst. Was steckt dahinter?
J.K.: Peter Weibel sprach von „wahnsinnigen Bilder für eine wahnsinnig gewordene Welt“. Das gefällt mir. Mir scheint die unserige eine der schizophrensten und gewalttätigsten zu sein. Auf technologischer und wissenschaftlich hohem Niveau lacht der Westen sich grundlos ins Bodenlose. Daneben der chancenlose Rest. Beschleunigt, verfügbar, informiert oder total zugemüllt zieht die Karawane weiter, und das Dauergeräusch der Information lässt Kommunikation kaum mehr zu. Bei allem Positiven, was ich unserem Fortschritt zugestehe, rangiert der Wahnsinn an vorderster Stelle. Er ist unübersehbar und fordert mich geradezu auf, ihn mal heiter, mal ernst zu behandeln.
H.-N.J.: Nun haben wir vorhin angefangen, einzelne Werkgruppen herauszugreifen. Da würde ich gerne weitermachen, um noch konkreter zu werden. Deshalb die Frage: Worum ging es dir in „Very de Nada“ oder „Griffe ins Leere“?
J.K.: Bei „Very de Nada“ ging es in erste Linie darum, aus dem Schwarz heraus zu arbeiten. Wie weit lässt das Medium das zu. Zwei, drei Taschenlampen, ein lichtempfindlicher Schwarzweißfilm – das war’s. Inhaltlich wollte ich das Fragen an sich thematisieren. Außerdem wird in einer Reihe von Bildern der Betrachter und das Medium hinterhältig zurück beobachtet. Titel wie „Spanner“ oder „Gespannte Spanner“ sprechen auch die erotische Spannung des Moments an. Diese angesprochenen Zustände waren die Urmotivation, diese schwarze Arbeit anzugehen. In der Peripherie zentraler Motive schwingen Momente und Fragmente von „viel Nichts“ und einer gewissen Komik mit. Installiert wird die Werkgruppe entlang der Fußleiste. Unser Blick fällt dabei von oben auf ein hochästhetisches, schwarzweiß, sinnlos erscheinendes Handeln, das fragend von der Welt erzählt. Die „Griffe ins Leere“ treten zum ersten Mal 1982 in Form eines zeichnerischen Leporello-Buches in Erscheinung. Nicht das individuelle Menschenbild, sondern nur noch sein Schatten und seine Silhouette werden sichtbar. Seiner Individualität und Identität mehr oder weniger verlustig. Sein Verschwinden ahnend. Damit dieser menschliche Rest nicht ganz in Anonymität versinkt, verleihe ich ihm überwiegend mein Profil und klicke mich als Autor und Stellvertreter, anders als in den Fotoarbeiten, ins Bild ein. Der Schatten erhält ein Gesicht und damit Authentizität. Das, was ich als Körpersprache durch mein gesamtes Fotowerk zieht, bekommt hier eine neue Deutung durch den gestalteten Schatten, der durch die Bedingungen und Möglichkeiten der Zeichnung anders übers Gleiche spricht.
H.-N.J.: Wie definierst du Authentizität in der Fotografie?
J.K.: Fotografie produziert unendlich Bilder von der Welt, die sich gleichen, weil die Welt und ihre Zustände vergleichbar bleiben. Also setzen auch hier nur einige wenige gedankliche oder bildnerische Maßstäbe, indem sie darüber hinaus oder darunter weisen. Indem sie das Medium nutzen, um ihre geistige Vorstellung von Welt ins Bild zu rücken, gelangen sie zu anderen, vielleicht auch authentischeren Bildern.
H.-N.J.: Was hat es mit deinen Röntgenbildern auf sich? Verstehst du sie als experimentelle Fotografie?
J.K.: Es war die Faszination, immer wieder auf den Flughäfen der Sichtbarmachung des Innenlebens meines Gepäcks beizuwohnen und wiederholt anzudenken, wie toll es sein müsste, eine solche Maschine wie einen Fotoapparat für eigene Gestaltungsprozesse zu nutzen. Der auf mich zukommende bürokratische Aufwand hielt mich lange davon ab, aber irgendwann war es ein Muss, und ich bekam nächtlichen Zugang unter polizeilicher Aufsicht zum Köln-Bonner Flughafen. Viele dieser nächtlichen Sitzungen führten zu der Werkgruppe „Prosecuritas“. Körper oder Objekte werden aufgelöst in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Sie verlieren, dabei mutierend zu etwas anderem, etwas von ihrer realen Bedeutung. Man könnte sagen, die Körper und Objekte sind entindividualisiert. Auch meine Identität verliert sich, und die innere Beschaffenheit zeigt sich in Licht, Verschattungen, Pixel und Zeilen. Dadurch, dass die „Prosecuritas“-Bilder meine Welt zeigen und viele der von mir in anderen Werkgruppen benutzten Objekte beinhalten, taucht die Frage nach meiner Identität weniger auf. Der Betrachter ahnt, dass ich es bin, der ihm da als „Toter Fotograf“ oder „Selbstfindung“ erscheint. Obwohl abwesend, bin ich anwesend. Das Sein scheint in einem anderen Licht. Diese andere Medium mit all seinen Möglichkeiten, seiner andersartigen Bildsprache und Ästhetik suggeriert zusätzlich etwas von Grenzen des Sichtbaren. Im Hin und Her meines intermediären Tuns entstand schon 1979/80 mein zeichnerisches Konzeptbuch „Das Innenleben der Dinge“. Diese Zeichnungen erweisen sich als Vorspiel zu den „Prosecuritas“, wenn auch mit Hilfe eines anderen Mediums und von völlig anderer Wirkung.
H.-N.J.: Ich wüsste gerne mehr über die Einbeziehung von Requisiten und deren symbolischer Aufladung? Da sind die Hüte, nichts als Hüte. Die Tische. Die Gefäße. Die Eimer. Die Kleiderbügel. Schwarze Anzüge. Und einiges mehr. Was hat es damit auf sich?
J.K.: Du meinst die vorletzte Werkgruppe „desaströses Ich oder Trost für Arschlöcher“. Man könnte auch sagen „Sonntagsneurosen II“. Das, was mich umtreibt, sind die Konstanten unseres Seins und mein poetischer Reflex sowie meine Sicht darauf. Ich suche nach immer anderen Blickwinkeln unter immer anderen Bedingungen. Im Kern geht es wie so oft um Beziehungsgeflechte, Identitätsproblematiken, Sexualität, Tod, Einsamkeit, Mensch- und Dingwelten, Leere und andere Seinstechniken. Im Zentrum stehen Körper und Gegenstände des Alltäglichen. Der Tisch als Welt in seiner Tragweite ausgedehnt, stellenweise von sich selbst verlassen wie die Körper. In den letzten Jahren ist viel vom virtuellen Körper und vom Verschwinden desselben gesprochen worden. Gleichzeitig sind wir von einem fetischisierten bis weltweit standardisierten Körperkult umgeben. Dem ein oder anderen traue ich dabei noch eine Art Vergewisserungsabsicht zu. Es geht ums Überprüfen, ob er noch da ist. Der Rest trottet im Gleichschritt. Solche Massenphänomene, die natürlich massenmediengestützt einhergehen, sind gekoppelt mit unendlichen Wunschvorstellungen. Man sehnt sich nach unendlicher Schönheit. Nach unendlichem Leben. Nach unendlich erfüllter Sexualität. Und vieles mehr. Bei näherer Betrachtung unserer fragwürdigen Existenz und deren Unzulänglichkeiten wissen wir, dass die wenigsten dieser Projektionen erfüllt werden. Das Scheitern ist also inbegriffen. Aus derartigen Überlegungen speisen sich unter anderem die Initialzündungen, eine solche Werkgruppe in Angriff zu nehmen und Bildstrategien zu entwickeln, die dem Betrachter zwar keine endgültigen Antworten geben, aber Räume öffnen, die ihn auf mehreren Ebenen ansprechen oder fragen. Dies gilt genauso für die Arbeiten der Werkgruppe, wo Körper oder Dinge in Auflösung scheinen oder vermehrt an Bodenhaftung verlieren.
H.-N.J.: Immer wieder ist da die Auseinandersetzung mit dem Dinghaften, das so dinghaft nicht zu sein scheint. Ein Titel wie „Animalischer Tisch“ lässt vermuten, dass du der Dingwelt eine autonome Sphäre zugestehst, die sich unserem Bewusstsein entzieht. Dazu wüsste ich gerne mehr. Auch über die Erlebnisse, die du hattest und die zu diesem Denken über Dinge führten.
J.K.: Wenn du den Passau-Katalog durchblätterst, stößt du auf eine ganze Reihe von dinghaften Bildern, isolierten, alltäglichen Gegenständen, die sich verselbstständigen bis hin zu skulpturalen Konstrukten. Im Vorfeld versammle ich diese Objekte um mich herum. Dabei unterliegen sie einer langen Betrachtung, die dazu führt, sie geistig ins Bild zu setzen. Ich versuche ihnen meine Bedeutung und Bildmagie einzuhauchen. Im besten Fall, wenn ich sie ins Bild gesetzt habe und ich ihnen ihre Gebrauchszuweisung, ihren Code entzogen habe, bleibt ihre Form. Jedoch dehnt das Material sich zu noch Anderem und imaginiert Zeit und abwesende Anwesenheit. Hans-Peter Wipplinger spricht im Katalog von der außergewöhnlichen Gegenwart der Leere oder dem bereinigten Bildraum, der den Blick frei macht auf den Fokus der dinghaften, beziehungsweise menschlichen Existenz. Ich selbst spreche ja auch von Bildräumen oder Denkräumen, die etwas – auch im Sinne der Konstanten – Zeitloses repräsentieren.
H.-N.J.: Noch eine Frage betrifft die Zusammenarbeit mit deinen Modellen. Welchen Einfluss haben diese auf die Ideen? Die Präsenz des Körpers des anderen im Studio spielt was für eine Rolle? Nacktheit ist Ausdruck von was für dich?
J.K.: Keinen. Ähnlich wie die Objekte und Gegenstände inspirieren mich die anwesenden Körper im Studio über das Vorgedachte und Geplante hinaus. Was die Nacktheit betrifft, so macht uns die Kunstgeschichte die unterschiedlichsten Vorschläge. Es geht da um den idealen Körper seiner jeweiligen Epoche. Ob der Körper als der schöne, der erotische, der sexualisierte oder der geschundene auftritt, ist jeweils abhängig davon, von wo der Blick des Künstlers fällt. Bei meinen Bildern wie der „Entscheidungsnotstände“ (desaströses Ich) fällt mein Blick auf einen standardisierten, entindividualisierten Körper, der nur noch Fleisch signalisiert. Hier wird nicht mehr die Annäherung der Geschlechter oder die spielerischen Überwindungsversuche sexueller Identitätsmuster, wie in den Bildern der 70iger, angesprochen. Jetzt sind sie gleichgeschaltet und eingefroren in ihrem Begehren, in ihren Wünschen. Die formalen, ebenbürtigen Konstrukte verbinden sich mit den nackten, teilweise nur noch fragmentierten Körpern zu abstrakten Formen, besser noch, zu Zeichen, die sie ihrer Individualität entkleiden. Was bleibt, ist ein Haufen Fleisch. Eine äußere Hülle. Der Körper wird zum Requisit. Außerdem taucht der nackte Körper – in diesem Fall nur der weibliche – in der Werkgruppe „Formalisierung der Langeweile“ auf. Auch hier eher systematisch, zeichenhaft, enterotisiert. Elisabeth Bronften schrieb in einem Essay über diese Werkgruppe, dass diese entblößte weibliche Figur für die Versehrtheit der menschlichen Existenz stünde. In erster Instanz arbeite ich hier mit der Nacktheit aus der Warte des konstanten männlichen Blicks. So heißt ein Tableau denn auch „Das ewig Männliche als ewig Langweiliges“.
H.-N.J.: Gedankensprung, wovon träumst du bezüglich einer Welt, in der Kunst mehr zählt?
J.K.: Ich hoffe, dass die Kunst, ohne einem Neokonservatismus zu verfallen, sich aus dem ästhetischen Welteinerlei befreien und so behaupten kann. Durch Selbstbefreiung zurück zur Selbstbehauptung, und damit zu der lapidaren Feststellung, dass es neben ihr ein breitgefächertes und bisweilen in Konkurrenz stehendes Kunstgewerbe gibt.
H.-N.J.: Am Schluss unseres Gesprächs will ich noch einmal zurück zu den Anfängen Was für eine Auffassung von Kunst hattest du damals, als du anfingst, und welche heute? Hat sich da etwas verschoben?
J.K.: Also in jungen Jahren glaubte ich naturgemäß, mit Kunst mehr bewirken, vielleicht sogar Dinge verändern zu können. Später stellte ich aber fest, dass dieser Glaube ein Irrtum ist. Welt lässt sich mit Kunst nicht verändern. Indem ich sie aber immer wieder neu artikuliere, trage ich dazu bei, sie zu buchstabieren. Verändert wird die Welt aufs Irrsinnigste durch Geld, Militär, Wirtschaft und Technologie. Im letzten Jahrzehnt scheint der Kunst einiges abhanden gekommen zu sein. Sie versinkt im ästhetischen Allgemeinen von Mode, Werbung, Design und banalen Medienbildern. Die Künste stellen aber eine sinnliche Form von Erkenntnis dar. Sie erinnern, fragen, intervenieren, stören auch und sättigen selten. Für einen Moment die Zeit anhaltend, hilft sie, das Chaos ein bisschen zu ordnen. Ich nehme meine Inspirationen und Anstöße von überall, egal ob aus Theorie, Wissenschaft, dem Blau des Himmels oder aus der Gosse. Aber die Kunst hat nur dann eine Chance, wenn sie auf Souveränität, Selbstbehauptung und damit auch auf Selbstbeeinflussung pocht und so zu anderen Entwürfen gelangt.
H.-N.J.: Die 60er und 70er Jahre sind .......?
J.K.: ....wohl neben den 20ern und 30ern Jahren das intensivste Labor der Kunstentwicklung gewesen. Die Kunst erweiterte ihre Sprache und machte sich neue Medien zugänglich. Die Theorie überwiegend, und insbesondere die Philosophie zeigte sich zu dieser Zeit eher statisch. Die Kunst wurde damals, wie mir in Gesprächen mit Intellektuellen versichert wurde, wegen ihrer Öffnung, ihrer Meta-Sprachen und Interventionen bewundert und auch als eine kleine Ersatzphilosophie gesehen. Französische Denker, die schon immer etwas näher an der Kunst waren, eigneten sich dieses Denken und Handeln der Kunst an. Deleuze und Guattari führten mit ihrem „Rhizom“ das Schlagwort der „offenen Systeme“ und des „Anything goes“ ein. Im Sinne von Nietzsche entfalteten sich die Künstler-Philosophen aber weniger Philosophen-Künstler, sondern mehr Gehilfen und Illustratoren. Mit zunehmender Popularität griff das auf Kunstwissenschaftler und sogar auf Kuratoren über. Die Folge ist eine Melange von scheinbar verwissenschaftlichter und didaktischer Kunst, in der sich Kunst und Wissenschaft selten stärken, sondern eher verflüssigen und dabei erheblich an Substanz verlieren. Mein Glaube auch in einer Massengesellschaft an das gestaltete Ich, das Individuelle, die Autonomie und Resistenz der Kunst bleibt. Diesen Anspruch will, kann und werde ich nicht aufgeben.
H.-N.J.: Ist Glück ein Wort, das in deinem Bewusstsein gegenwärtig ist?
J.K.: Natürlich nicht allgegenwärtig, denn was das genau ist weiß ich nicht, jedenfalls ist die Verheißung, die in ihm steckt nicht zu halten. Es gibt die vielen, kleinen trivialen Augenblicke, wo man von so etwas gestreift oder gar beglückt wird. Aber genauso schnell, wie sie gekommen sind, verschwinden sie auch wieder. Vielleicht ist ja das Verschwinden das Glück.