Burghart Schmidt

Jubel aus Leere in Leere. Jürgen Klauke


Museum Moderner Kunst Passau (Hg.)
Jürgen Klauke, Hoffnungsträger. Aspekte des Desaströsen Ich
2006

Über Jürgen Klaukes photographisches und performancielles Kunstwerk ist so viel von wichtigen Kunsttheoretikern und Kunstkritikern geschrieben worden, dass es an der Zeit ist, zu umlaufenden Thesen diskutierend Stellung zu nehmen, also auf eine zweite Metaebene hinüberzuwechseln oder abzuheben. Da ist die These vom Verlust der Repräsentation, besonders von Peter Weibel hervorgekehrt. Weibel meint, um diesen
in der heutigen Diskussion der Zeichentheorie umgehenden Terminus auch allgemein verständlich zu machen, damit auf einfachster Ebene im Hinblick auf die Menge an Porträts verschiedenster Sorte im Werk von Klauke, dass sie in vielen ihrer Kombinate zu Reihen und Schichtungen zu klären versuchten, dass es keine Zuordnung der Gesichter mehr zu Rollen in der Gesellschaft oder zu Charakteren oder zu Gestimmtheiten gäbe. Gesichter gäben also mittlerweile keine Orientierungen her, sie hätten demnach ihre Repräsentativität verloren. Denn „repräsentieren“ heißt, etwas durch
eine Stellvertretung zeigen, vorzeigen, bedeuten, wie Wörter trotz ihrer ganz anderen Beschaffenheit im Vergleich zu ihren Bedeutungen diese Bedeutungen vorführen, hervorrufen, anzeigen, daher ja die Rolle des Terminus Repräsentation in der Zeichentheorie, sozusagen in der Zeigetheorie. Weil aber die Repräsentation verloren gegangen sei, so weiter Weibel, so zeige das Jürgen Klauke durch seinen Übergang vom Porträt, das charakterisieren will, zu Masken und Vermummungen in Serialität, welche entweder die Repräsentation äußerst vieldeutig machen wollen oder gerade durch diese gesteigerte Vieldeutigkeit auslöschen: die Vermummung in Endlosschleife aus Variation.
Aber dazu muss man vorsichtig sein. Die Haupttheoretiker eines Verlustes der Repräsentation im Zeichengebrauch auf allen Ebenen der Gesellschaft in unserer Zeit, der Franzose Michel Foucault und der Italiener Umberto Eco, sind bei dem Verfolgen dieses Trends in unserer Moderne – am stärksten ausgeprägt in den Künsten und Literaturen, am schwächsten selbstverständlich im Rechtssystem, so dass man den Trend dort fast leugnen könnte, und doch meldet sich auch dort verstärkt eine wachsende Unsicherheit in der Rechtsauslegung – Foucault und Eco sind also beim Verfolgen des Repräsentationsverlusts besonders auf dem Gebiet seiner stärksten Ausprägung, den Künsten und Literaturen eben, auf den Umstand gestoßen, dass, wo Repräsentationsverlust eintritt, sofort eine andersartig neue Repräsentation aufscheint, statt dass Repräsentation überhaupt aufgehoben wäre. So hat Eco etwa für seinen Leitbegriff des „offenen Kunstwerks“ festgehalten, es sei zwar durch seine Offenheit auf eine Deutung nicht zu fixieren außer der Möglichkeit, dass es etwas bedeuten könne und darum immer noch von Zeichen-charakter bleibe. Aber damit entzöge es sich nicht aller bestimmten Deutung, ließe diese vielmehr dem Betrachter frei, ohne sich auch durch mühseligste und langwierigste Forschung des Für und Wider auf die eine und einzige wahre Deutung festlegen zu lassen. Es geht demnach um eine Pluralisierung der Deutungen, nicht um deren Aufhebung, und um ein relativ freies Spiel dieser Deutungen vom Betrachter her. Und ähnlich klingt auch Foucault, wenn er den neuen Zeichenstatus unserer Zeit für die Zeichenwelten näher beschreibt. Es geht also darum, dass sich bestimmte Grundlagenprogramme der Kultur in ihrer entschiedenen oder entscheidbaren Geltung aufgehoben haben, auf die hin Repräsentationen entziffert wurden, weil ihre Zeichenwelten daraufhin festgelegt waren. Und das heißt, man muss selber ein solches Grundlagenprogramm wählen oder konstruieren oder aus Fragmenten alter Grundlagenprogramme kombinieren. Und man tut das auch geradezu triebhaft. Und zu dem Geschilderten erweist sich mir gerade das bisher gesamte Lebenswerk Jürgen Klaukes als eine faszinierend einleuchtende Heranführung auf Wegen der sinnlichen Wahrnehmung. Man nehme etwa die Titellage, Klauke hat zu keinem seiner Bildkonstrukte aus Serialität und Schichtung auf Bildtitel stärkst metaphorischer Funktion verzichtet. Aber die Titelmetaphern könnten fast unbeschränkt ausgetauscht werden zwischen den Bildkonstrukten, ohne dass sie in der Entscheidung des Autors jeweils an Ort und Stelle unplausibel wären. Das vermittelt einem den Pluralismus der Deutbarkeiten, wie ihn Eco lehrte, zusammen mit dessen Hinweis darauf, dass solcher Pluralismus keineswegs ganz entgrenzt und daher beliebig sei, daher nannte ich den Pluralismus hier relativ.
Bei Klauke sind die Titelmetaphern aus einem endlichen und damit bestimmten metaphorischen Funktionsfeld. Das Gleiche gilt für die Bildmotive, Farbwelten und Abstraktstrukturen. Das Metaphorische oder vielmehr die metaphorische Funktion bei Klauke vermittelt also den unnachlässlichen Deutungsdrang der Menschen, selbst wo sich alle Deutungsgeltung ihm zu entwinden scheint oder er vielmehr selber sie auflösen möchte. Es geht so bei Klauke nicht um den Repräsentationsverlust, sondern um das Sichbeschleunigen im Repräsentationswechsel und um die Projektion der Deutungsgeltungen aus der garantierenden Gesellschaft in das setzende Ich des deutenden Auffassers ohne Wahrheitsgewähr für die Geltungsgründe außer in Hinsicht auf die Entscheidungen des deutenden Individuums und seine Situation.
Im Rahmen solcher Relativität bewegen sich jedoch weiterhin auch die alten Verfahren der Hermeneutik, also der Deutungskunst. Klauke mit seiner metaphorischen Funktion setzt sie selber ein, wenngleich ironisch bis satirisch. Was von dem Repräsentationsproblem auf der Ebene der Theorie der Zeichenwelten an Relativität ausgesprochen und strukturiert wurde, zeigt sich übertragbar aufs Psychologisch-Ethisch-Existenzielle der Identitätsproblematik, aufs Erkenntnistheoretisch-Geschichtstheoretisch-Soziale der Subjektivitätsproblematik und so auf die Frage nach dem Ich. Es dreht sich heute nicht um Identitätsverlust, nicht um Subjektivitätsverlust, nicht um Ichverlust, sondern es beschleunigt sich der Wechsel der Identitäten und Subjektivitäten in einem Ich, das deswegen selber lauter Wechsel dessen besteht. Und Solches lässt sich desgleichen
aus dem Gesamtwerk Klaukes gründlich ersehen und nahebringen, es drängt sich überzeugend der Anschauung auf.
Nun, soweit aber die Texte sich auf Identitätsverlust, Subjektivitätsverlust, Ichverlust konzentrieren statt aufeiner Beschleunigung des Wechsels, erwecken sie den Eindruck, als habe es früher Identität, Subjektivität, Ich zuverlässig der Sache nach gegeben, und nun sei der Sachverhalt aus der Welt gegangen oder aus der Welt gebracht worden.
Die Ansicht des beschleunigten Wechsels macht dagegen klar, dass es sich um Einsichts-gewinne gegenüber Dogmatiken von einst handelt, die auch auf die Vergangenheit zurückzugreifen vermögen. Und dann wird klar, dass es Identitätswechsel, Subjektivitätswechsel, Ichwechsel schon sehr viel früher gegeben hat, nämlich bei den oberen Schichten der Gesellschaft, während durch mit Gewalt durchgesetzte gesellschaftliche Geltungen etwa unteren Schichten Kleiderordnungen und Verhaltensweisungen verhängt waren bis in die Trachtenkulturen hinein. So kam die Mode als der Identitätswechsel in Paradigmatik bei den oberen Schichten durch den Kultureinfluss der Kreuzzüge während des Hochmittelalters auf, vom Adel bis zu den Patriziern. Den unteren Schichten blieb davon nur ein Wechsel der Accessoires an den Hüten, etwa in der sonntäglichen Tracht als der feineren Spiegelung der Alltagsgewänder. Man kann dann in der historischen Per-spektive sagen, dass der durchaus auch menschlichem Drang entsprechende Identitätswechsel sich von den oberen Schichten nach und nach zu den unteren ausbreitete und seit der industriellen Revolution eben eine wachsende Beschleunigung erfuhr.
Ja, insofern Identitätswechsel mit dem Übergang von der Charakter- und Personalitätsorientierung zur Rollentheorie des gesellschaftlichen Lebens von Menschen im Zusammenhang zu sehen ist, findet sich das schlechthinnige Paradigma dazu im frühen Hochmittelalter, literarisch-dramatisch allerdings erst so richtig besungen von zwei Vertretern der Moderne im zwanzigsten Jahrhundert, T. S. Eliot („Mord im Dom“, 1935) und Jean Anouilh („Becket oder die Ehre Gottes“, 1959). Es dreht sich um die Geschichte des Thomas Becket, Freund, Kanzler und Freudenpartner des englischen Königs Heinrich II. in Sachen weltlicher Genüsse. Während des Investiturstreits mit der Rom-Kirche hielt es der König für einen ganz schlauen Schachzug, seinen Freund, weil der auch einmal ein wenig Theologie studiert hatte, zum höchsten Erzbischof seines Königreichs zu machen, dem von Canterbury. Aber von heute auf morgen vertrat Becket aufs schärfste die extremen Ansprüche der Kirche gegen den König, wie keiner seiner Vorgänger.
Lebenswidrige Identität, Subjektivität, Ichheit hat es ab bestimmten Produktivitäts- und Kulturniveaus nur als Verfügungsgewalt von oben gegeben, die Naturnot historisch verlängernd, während sich das Oben schon davon freizumachen begann. Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen schlagen Radikalskeptik und tiefe Melancholie, wie sie das Werk Klaukes auf erste Blicke hin zu vermitteln scheint, um in bittere Fragen nach der Befreiung des Menschen. Bitter darum, weil das Werk ebenso vermittelt,
dass die enorme Beschleunigung des Wechsels die Menschen total überfordern könnte, Sartres „Zur Freiheit verdammt sein“. Und doch bleibt die utopische Frage nach der Freiheit in zahllosen Befreiungen kleiner Schritte innerhalb des etwas länger durchhaltenden Alltagsinterieurs und seiner Symboliken, was zu Slapstick und Clowneske bei Klauke führt. Weibel etwa berührt die Befreiungsutopie nur im Zusammenhang mit der Genderproblematik, ausführlich auch behandelt von Elisabeth Bronfen, Befreiung von der Festschreibung der Frau. Und dazu liegt er auch ganz richtig, wenn er Cindy Shermans Auseinandersetzung mit dem Genderproblem von Klaukes Bildkonstruktionen montierender Stellungnahme dadurch unterscheidet, dass er Sherman sich begrenzen sieht auf die Arbeit gegen die Festschreibung der Frau, während Klauke das weitert zur Arbeit gegen die Festschreibung des Mannes, indem er Ausdrücke vom beschleunigten Wechsel im Umschlag der Geschlechter zueinander schafft. Hier ist ja die Sehnsucht nach der Androgynität oder dem Hermaphroditismus nahezu mit allen Sinnen durch Klaukes Werk zu erfassen, wie kein Traktat es vermöchte.
Weil aber auch hierin Radikalskeptik wie Melancholie sich bewegen, macht das den Verweis auf Peter Weiermairs barocken Zug im Werk von Klauke plausibel über das sich immer wieder meldende Vanitasmotiv. Aber nicht durch es allein, wie ich meine. Sondern weil Barockkunst, wenn auch in lauter diesseitigen Bildwelten von diesseitiger Struktur, das religiöse Transzendieren einleuchten lässt oder vielmehr ausstrahlt aus der Leere in die Leere und so besonders in der Musik die dialektische Paradoxie eines Jubels aus der Leere in die Leere anzutönen unternimmt, das macht die barocke Feierlichkeit aus. Diese dialektische Paradoxie nun verwirklicht auch Klauke, aber ohne religiöses Transzendieren. Weshalb vielleicht Erinnerung an den Manierismus zutreffender wäre, als an den Barock. Der Manierismus verhielt sich zur Melancholie und ihrer versteckten Freude mehr säkular. So also nicht neutestamentarisches „Es ist vollbracht“ als Sterbenswort, sondern künstlerisches „Es scheint vollbracht“. Darum aber wirft sich über die kunstphotographischen Bildwelten Klaukes der Schleier der Satire, wie wenn sie sich für ihre Feierlichkeiten aus Leere in Leere entschuldigen wollten: „Nur weil wir sterblich sind, ist Alles nicht so ganz ernst zu nehmen“ (Bu.S.).
Und dialektische Paradoxie schlägt bei Klauke um in Triadoxie. Diese dreifache Faktorenschaft oder Funktionalität erzeugt jene metaphorische Vieldeutigkeit mit Tempo, aus der der übersetzende Textreichtum hervorspringt, um zum Anfang zurückzukehren.