Andreas F. Beitin
Die Gewalt des Faktischen und die Schönheit des Schrecklichen: Schlachtfelder von Jürgen Klauke
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ lautet der letzte Satz von Ludwig Wittgensteins epochalem Werk Tractatus logico-philosophicus.[1] Über den Tod, der die einzige Gewissheit des Lebens darstellt, kann man aus eigener Anschauung nichts sagen. Denn „der Tod ist kein Ereignis des Lebens“[2], er liegt jenseits aller Erfahrungen, außerhalb der empirischen Grenzen. Über das Sterben kann man sprechen, über das Töten auch, aber über den Tod selbst, eigentlich nicht. Dennoch ist über dieses Thema viel gesprochen und philosophiert worden. Die Unvorstellbarkeit des Todes bereitet nicht nur Angst, sondern hat über die Jahrhunderte hinweg auch zu einer wahren Bilderflut geführt. Als Mittel der Darstellung können folglich nur die Anzeichen, die Auswirkungen des Todes, die Toten oder die Gewalt des Tötens gezeigt oder durch Stellvertreter und Symbole visualisiert werden. In der zeitgenössischen Kunst ist es bedingt unter anderem durch den technologischen Fortschritt, d.h. durch das Hinzukommen der so genannten neuen Medien, in diesem Zusammenhang zu einer steigenden Anzahl von Todesdarstellungen gekommen. Dies haben Thomas Macho und Kristin Marek in ihrer jüngsten Publikation zum Anlass genommen, von einer „neue[n] Sichtbarkeit des Todes“ zu sprechen.[3]
Lässt man den Umstand außer Acht, dass man den Tod selbst nicht sehen kann und definiert ihn hier zunächst der Einfachheit halber als die Summe seiner sichtbaren Anzeichen bzw. Auswirkungen, so ist hinsichtlich der Präsenz des Todes in der Gesellschaft eine im Verlauf der Geschichte sich diametral entwickelnde Tendenz zu beobachten. Früher, das heißt in vormoderner Zeit, gehörte der unmittelbar erfahrbare Tod durch Kriege, Krankheiten, öffentlichen Strafvollzug, höhere Sterblichkeitsraten und vor allem durch das Ableben im häuslichen Umfeld zu den mehr oder weniger normalen Alltagserfahrungen der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund christlicher Frömmigkeit definierte man den Tod als das Ende der irdischen Existenz und betrachtete ihn als eine Art Übergangssituation in die himmlische Ewigkeit. In dieser vormodernen Zeit war es überwiegend der Kunst vorbehalten, symbolische Darstellungen des Todes oder die bildliche Präsentation von Tötungen in Gemälden, Zeichnungen und Grafiken zu visualisieren. Während heute in unserer säkularen Gesellschaft der Tod überwiegend als finales und von daher als so umfassend wie möglich zu verdrängendes Ende des Daseins begriffen wird und unmittelbare Erfahrungen von Sterben und Tod weitgehend aus der Öffentlichkeit sowie aus dem privaten Bereich verschwunden sind und in Institutionen stattfinden – 70-80 % aller Menschen sterben in der westlichen Welt in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen.[4] In den medialen Welten hingegen ist der Tod allgegenwärtig. Noch nie ist in einer Kultur der Tod durch das virtuelle oder simulierte Töten derart präsent gewesen, wie aktuell in der westlichen. Ob in Kino- oder Fernsehfilmen, in Computerspielen oder im Internet, die Simulation von Tötungen ist omnipräsent. Allein im bundesdeutschen Fernsehen werden innerhalb der zahlreichen Serien und Filme jeden Tag im Schnitt 70 Morde begangen.[5] Und auch der real stattfindende Tod wird durch moderne Technik jedem anschaulich verfügbar gemacht – man denke an die live am heimischen Fernseher zu verfolgenden Verzweiflungssprünge der Anschlagsopfer am 11. September 2001 oder beispielsweise an die Veröffentlichung von Ermordungen von Entführten durch Al-Quaida-Terroristen im Internet. Susan Sontag spricht im Zusammenhang mit der ersten, medial erfahrbaren Kriegsberichterstattung aus Vietnam zwar von einer „neue[n] teleintime[n] Nähe von Tod und Zerstörung“[6], jedoch ist der Tod auch hierdurch nicht wirklich nah, sondern liegt aufgrund der medialen Distanz noch immer in virtueller Ferne. Fest steht, dass der Tod durch die häufige Präsentation in den unterschiedlichen Medien einen Teil seines Schreckens verloren hat. Andererseits wird auch durch die Darstellung verschiedenster Entwicklungen in Technik und Medizin eine gewisse Unverwundbarkeit bzw. Regenerierbarkeit des Körpers suggeriert. Umso schockierender fällt das unmittelbare Miterleben aus, wenn Sterben und Töten real und direkt werden, wenn der Tod in die ungewohnte und bedrohliche Reichweite der eigenen Existenz kommt. Jeder kann es bestätigen: Hundert Unfalltote in Fernost berühren viel weniger als zehn in der eigenen Stadt oder als einer direkt vor der Haustür.
Während heute das Leben in der westlichen Welt also überwiegend von medialisierten oder virtuellen Todeserfahrungen geprägt ist, wird der Tod auf Schlachthöfen unmittelbar erfahrbar: Analog zum Sterben ist auch das Schlachten ein Geschehen, dass seit der Industrialisierung sukzessive aus dem Alltag verschwunden ist. Während man früher nach Bedarf direkt im Dorf, in der Stadt oder auf den Bauernhöfen schlachtete, so wird heute im industriellen Maßstab dafür gesorgt, dass in den Supermärkten Fleisch jederzeit im Überfluss angeboten wird – zu einem Kilopreis, der teilweise unterhalb einer Packung Taschentücher liegt. Wer einmal in einem Schlachthaus gewesen ist, wird den süßlichen Geruch von Blut, der in der feuchtwarmen Luft liegt, nie wieder vergessen. Durch die Kombination der visuellen Eindrücke mit denen des Geruchssinns verbleibt eine besonders tiefgehende und lang anhaltende Erinnerung. Auch wenn hier Nutztiere die Opfer sind, so verstört neben dem Akt des Tötens vor allem die Dimension dieser fernab der Öffentlichkeit funktionierenden Maschinerien des Todes. Der Prozess des Schlachtens ist vom Lebensumfeld der Menschen weit entfernt. Das Fleisch ist in den meisten Fällen zu einem abstrakten Nahrungsmittel geworden, das mit seinem tierischen Produzenten in keinerlei Verbindung zu stehen scheint und auch nicht stehen soll. Georges Bataille hat dies bereits 1963 analysiert: „Das Schlachten und das Ausnehmen des Viehs ekeln heute ganz allgemein den Menschen an: In den angerichteten Speisen darf nichts daran erinnern.“[7] Zuvor hatte er schon 1929 in seinem Artikel „Abattoir“ für die Zeitschrift Documents auf die Tendenz zur Entfernung von realen Todeserfahrungen hingewiesen:
„Doch der Schlachthof unserer Tage ist verfemt wie ein Schiff, das von Cholera betroffen ist, unter Quarantäne gestellt. Nun sind die Leidtragenden dieses Fluchs weder die Metzger noch die Tiere, sondern die braven Leute selbst, die auf diese Weise dahin gekommen sind, ihre eigene Häßlichkeit nur noch zu ertragen, eine Häßlichkeit, die tatsächlich auf ein krankhaftes Bedürfnis nach Sauberkeit, nach galliger Kleinlichkeit und Langeweile antwortet: Der Fluch (der nur die erschreckt, die ihn aussprechen) bringt sie dazu, so fern wie möglich von den Schlachthöfen zu vegetieren...“[8]
Bataille beklagt nicht nur einen Verlust bzw. eine Reduzierung existenzieller Lebens- und somit auch Todeserfahrung durch die Verdrängung der Existenz von Schlachthöfen sondern auch die sublimierende Kompensation des Wissens um Tod und Vergänglichkeit durch übertriebene Reinlichkeit. Sie soll den Dreck, die Hässlichkeit tilgen, auch eine Hässlichkeit des Inneren, das durch Ausscheidungen ans Tageslicht kommt oder – um bei Batailles Beispiel des Schlachthofes zu bleiben – durch das Aufschneiden des Körpers, denn alles was von innen kommt gemahnt an Zerfall, Vergänglichkeit, Tod. Auf unsere gesellschaftliche Realität übertragen würde seine Kritik heute vermutlich auch den Jugendlichkeitswahn mit einbeziehen und das Zunehmen an artifizieller Schönheit, die ebenfalls die Unsterblichkeit des entsprechenden Individuums suggeriert.
In Jürgen Klaukes neuem Werkkomplex der Schlachtfelder (2009/2010) ist die Präsenz des Todes auf unterschiedliche Weise ein zentraler Bestandteil. Die zwölf Tableaus der Serie setzen sich zusammen aus jeweils zwölf Farbfotografien; sie zeigen abwechselnd vom Künstler inszenierte Fotografien und Bilder von Blut und Innereien. Diese Schlachthaus-Fotografien sind „aus einem Lustprinzip heraus“ entstanden und ohne eine konkrete Absicht hinsichtlich einer sofortigen Verwendung; zunächst stand für Jürgen Klauke nur das Interesse am „Ausfluss- und Vergänglichkeitsmodus der Scheiße“ im Vordergrund.[9] Die Fotografien, die Klauke bei nächtlichen Besuchen in einem Kölner Schlachthof schoss, zeigen innere Organe wie Blasen, Mägen und Därme, Gewebe und Blut; ganze Tiere oder das Schlachten selbst sind nicht zu sehen. Die Aufnahmen haben dann zunächst vier, fünf Jahre lang im Archiv des Künstlers gelegen, bevor er sich entschloss, sie zusammen mit anderen, bereits bestehenden Fotografien zu großen Tableaus zu arrangieren. Klauke arbeitet in dieser neuen Serie – für sein Werk eher ungewöhnlich – mit Farbfotografien, die fast nur in seinen frühen Arbeiten der 1970er-Jahre eine Rolle spielten, sowie mit den Mitteln der Fragmentierung und Abstraktion. Abstrakt erscheinen diejenigen Fotografien der Schlachtfelder, die das auf den Boden, auf Bleche oder Gerätschaften gespritzte Blut der Tiere zeigen, das in der Opulenz seiner Farbe teils krustig geronnen oder angetrocknet ist. Fragmentiert erblickt man den Künstler selbst, der nur ausschnittweise und in serieller Wiederholung in drei unterschiedlichen Positionen zu sehen ist. Auf einem Viertel der insgesamt 144 Fotografien des Tableaus schwingen leere Stühle.
Die meiste Aufmerksamkeit ziehen in den Schlachtfeldern die Fotografien von Innereien auf sich, die in Blechwannen oder auf dem von Schlieren überzogenen Boden liegende Organe zeigen. Ihr blutiges Gewebe ist von Adern durchzogen. Die feuchten Oberflächen der verschieden farbigen Klumpen glänzen im Schein der Leuchtstoffröhren, die die Arbeitsbereiche des Schlachthofs in ein kaltes Licht tauchen und die Pastelltöne der Innereien noch fahler aussehen lassen. Im starken Kontrast hierzu steht das leuchtende Rot des Blutes. Die Benennung und Lokalisierung der meisten fotografierten Organe ist kaum möglich; sie sind durch das destruktive Handwerk der Schlachter zu form- und funktionslosen Teilen geworden. Im Fokus von Klaukes Aufmerksamkeit stehen besonders die kugelförmigen, aufgeblähten Mägen, die aufgrund ihrer Form an menschliche Schädel erinnern. Der Blick der Kamera bietet hier dem Betrachter der Fotografien die Perspektive eines Pathologen, dem sich gehäutete Körper darbieten. Hin und wieder weisen diese Organe Schnitte auf, fein säuberlich, sehr ästhetisch, wie von Lucio Fontana beigebracht, allerdings nicht durch Leinwand, sondern durch Haut, Fleisch, Fett. Zum Vorschein kommt dabei nicht die schwarze Tiefe eines metaphysischen, imaginären Raumes, sondern die vorverdauten Reste der letzten Fütterung. Am Ende der Folge konzentriert sich der Blick der Kamera auf die Strukturen von an Marmor erinnernde Netzwerke aus feinen Adern auf hellem Grund. Zur diskutablen, oder besser gesagt ambivalenten Ästhetik der Bilder meint Klauke: „Für mich sind die Schlachthausbilder hochästhetisch, für andere sind sie unerträglich. Die Frage ist, was wir ästhetisch oder schön finden. Die Schönheit des Schrecklichen ist ja auch kein unbekannter Begriff“.
Durch die Präsentation der von den meisten Menschen als schrecklich, eklig oder abstoßend empfundenen Innereien des Schlachtviehs greift Jürgen Klauke auf die immer noch provozierende Kategorie der Hässlichkeit zurück, eine Kategorie, die im Zusammenhang mit ihrem vermeintlichen Gegenteil, der Schönheit, bei der Beurteilung der Qualität von Kunstwerken seit der Antike immer wieder heftig erörtert worden ist; im 18. Jahrhundert beispielsweise von Lessing und Winkelmann in ihrem Laokoon-Streit. Im 19. Jahrhundert erlebte der Diskurs schließlich einen Höhepunkt: Einer seiner Exponenten war Karl Rosenkranz, der 1853 in seiner Ästhetik des Hässlichen versuchte, die Gegensätzlichkeit der ästhetischen Pole von Schönheit und Hässlichkeit in der Kunst in einer pragmatischen Lösung zu versöhnen, indem er die Hässlichkeit duldete, solange sie der Schönheit dient. Nur wenige Jahre später veröffentlichte der fast in Vergessenheit geratene Comte de Lautréamont, einer der frühen Wegbereiter für die Auseinandersetzung mit dem Hässlichen, Abgründigen, Morbiden, seine Gesänge des Maldoror (1868). Er sollte für die Generation der Surrealisten im literarischen Bereich eine maßgebliche Rolle spielen. Und selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die ästhetische Kategorie der Hässlichkeit im Zusammenhang mit der Abject art vor allem in den USA kontrovers diskutiert.[10]
Jürgen Klauke macht durch seine Fotografien in doppeltem Sinn sichtbar, was sonst nicht zu sehen ist; eine Praxis, die er beispielsweise schon in Serien wie Prosecuritas (1987) oder in Ästhetik des Verschwindens (1992/1993) angewendet hat. Er kehrt in den Schlachtfeldern das Innere nach außen – das Innere des Schlachthofes sowie das der Tiere: „Wenn unser Innerstes unmittelbar externalisiert wird, ist das Ergebnis abstoßend“, stellt Slavoj Zizek im Kontext anderer Arbeiten von Jürgen Klaukes fest.[11] Vor diesem Hintergrund spielt es auch keine Rolle, dass in den Schlachtfeldern tierische Organe und Innereien zu sehen sind, denn menschliche sehen nicht viel anders aus. Klauke möchte mit den Schlachtfeldern keine Konsumkritik oder Vegetarierkampagnen initiieren. Er beschäftigt sich vielmehr mit den grundsätzlichen Themen der Existenz. Wenn sich auch die menschlichen Lebensformen innerhalb der letzten Jahrzehnte durch technologischen Fortschritt stark verändert haben, so leben wir im Grunde doch noch immer in der gleichen biologisch determinierten Weise wie Tiere: gebären, essen, verdauen, sterben. Das ganze Leben ist dabei der Dualität von 0 und 1, von „an“ und „aus“, von schlafen und wach sein, leben und sterben unterstellt, eine Dualität, die auch an den Schlachtfeldern in vielfältiger Weise festzustellen ist.
Neben dem Oszillieren zwischen dem Reiz des Hinschauens und dem angewiderten Wegsehen werden die Schlachtfeld-Tableaus außer von der farblichen Polarität von Graublau und Rot vor allem von Präsenz und Absenz dominiert. Präsent sind einerseits die Schlachtteile, die in mehr oder weniger abstrahierter Form dargestellt werden; es sind auch die Aufnahmen der nicht verortbaren, blutbesudelten Ecken des Schlachthofes, sowie die Fotografien von Jürgen Klauke selbst. Die Absenz wird andererseits durch die leeren Stühle visualisiert, die wie Schaukeln in ebenso leeren Räumen schwingen. Klauke spricht in diesem Zusammenhang von einer „sehr präsenten Abwesenheit“: eine paradox erscheinende Umschreibung, die in ihrer Ambivalenz aber sehr genau greift. Durch das wiederholte, serielle Zeigen der leeren Stühle, die sich jeweils im Zentrum der Fotografien befinden, ist das Nichtdasein einer benutzenden Person tatsächlich sehr gegenwärtig. Wie bereits in zahlreichen anderen Arbeiten zuvor verwendet Klauke auch hier das Mittel der Dynamik, die durch die Langzeitbelichtung deutlich wird: Er zeigt nicht einfach einen im Raum stehenden Stuhl, sondern lässt ihn an Drähten hängend im Raum schwingen, was die unmittelbar zuvor bestandene Präsenz eines Impulsgebers impliziert. Hierin liegt zugleich eine Parallele zur behelfsmäßig-symbolischen Darstellung des Todes in der bildenden Kunst, da der Tod ebenfalls nie „hier“, im Erfahrungsbereich der Lebenden, sondern nur indirekt durch die Toten gegenwärtig sein kann.
Präsent ist also die Gewalt des Faktischen, der Schlachtstücke und des Blutes. Die Drastik der Destruktion vermittelt ein Erschrecken auch über die Unsicherheit der eigenen Existenz. Es ist wie bei einigen Werken von Franz Kafka, in denen vergleichbar mit Jürgen Klaukes Schlachtfeldern über das Schildern von grausigen, scheinbar unabwendbaren Begebenheiten (beispielsweise in den Erzählungen In der Strafkolonie, Ein altes Blatt oder Ein Landarzt) ebenfalls dieses Erschrecken zu finden ist, das den Geschichten als Subtext zugrunde liegt. Auch der auf einigen Fotografien der Schlachtfelder schwingende Wasserbeutel mit seinen ambivalenten Bewegungen aus Kontrollierbarkeit und Nicht-Kontrollierbarkeit, der frei im Raum pendelt oder sich mit dem Künstler optisch zu vereinigen scheint, steht als Symbol für die Labilität und bedingte Steuerbarkeit des Lebens. Die glänzende „Haut“ des Beutels, die auf der materiellen Ebene analog der biologischen Haut wie eine schützende Oberfläche funktioniert, verwehrt wie bei einem lebenden Körper den Blick auf das Innere und auf das darunter liegende „fremde Territorium des Todes“[12]. Alle bisher genannten Elemente, die Präsentation formloser Körperteile toter Tiere, die verlassenen Schaukeln sowie der Wasserbeutel verweisen in ihrem synergetischen Zusammenspiel wie ein memento mori auf die Fragilität der Existenz und die Endlichkeit des (individuellen) Daseins. Bei Martin Heidegger heißt es in Sein und Zeit, dass das allgemeine „man stirbt“ die „Eigentümlichkeit der Gewißheit des Todes, daß er jeden Augenblick möglich ist“ verdecke, denn „das Man besorgt dergestalt eine ständige Beruhigung über den Tod.“[13] Jürgen Klaukes Schlachtfelder beunruhigen in dem Sinn, dass sie das „Man“ durch die unmittelbare, auf den Betrachter gerichtete, emphatische Ansprache entkollektivieren und dadurch subjektivieren. Im Angesicht der Schlachtfelder wird man sich dieses Aspektes des Lebens zumindest für einen Augenblick bewusst und wird an den unter der Haut liegenden Verfall zum Tod erinnert.
Neben Präsenz und Absenz ist noch ein weiterer Gegensatz in dieser neuen Werkserie zu finden: die spontan gemachten Fotografien im Schlachthof als einem Teil der gesellschaftlichen Realität und die inszenierten Fotografien, in denen „die Vorstellung als Welt“ von Jürgen Klauke visualisiert wird. Diese Art von Gegenüberstellung ist von Jürgen Klauke schon einmal 1972 in ähnlicher Weise in der Publikation Jürgen Klauke. (Ich & Ich) erotografische tagesberichte vorgenommen worden, in der er eine Gegenüberstellung von inszenierten Poloroid-Fotografien mit Dokumentar-Fotos von autoerotischen Begebenheiten mit tödlichem Ausgang realisierte. In den Schlachtfeldern findet diese Gegenüberstellung Einlass in einen eigenen Werkkomplex und kann auf die Begriffe Realität und Imagination, auf Faktizität und Inszenierung, auf Leben und Kunst verkürzt werden.
Wie in allen seinen Arbeiten ist der Titel auch bei den Schlachtfeldern von Jürgen Klauke sehr präzise ausgesucht worden und offenbart ein Spektrum an unterschiedlichsten Assoziationen. Mit „Schlachtfeldern“ verbindet man zunächst Orte kriegerischer Auseinandersetzungen. Die im Mittelhochdeutschen noch heroisch-euphemistisch als Walstatt bezeichneten Kriegsschauplätze (wal = Auswahl der gefallenen Krieger durch den heidnischen Gott Odin) wurden im Verlauf der Neuzeit trotz Aufklärung und stetig steigendem Bildungsgrad in zunehmenden Maße zu Orten des massenhaften, gegenseitigen Abschlachtens und zu Territorien von technischen Materialschlachten. Die in dem Wort „Schlachtfeld“ enthaltenen Substantive „Schlacht“ und „Feld“ kombinieren dabei eine zeitlich begrenzte, feindliche Aktion mit einem bestimmten Ort. Dahingegen wird das Verb „schlachten“ im aktuellen Sprachgebrauch fast ausschließlich für das Töten von Tieren verwendet. Über dieses Verb werden die beiden unterschiedlichen Handlungssphären miteinander verbunden; das Destruktive ist ihnen dabei gemein. Im Gegensatz zu topografisch eindeutig bestimmbaren Schlachthöfen entwickeln sich heutzutage kriegerische Handlungen zunehmend zu „Schlachtfelder[n] als Raum im Kopf“, wie Bernd Hüppauf betont: „Erst in der Gegenwart wird Krieg ohne ein räumlich begrenztes Schlachtfeld möglich. [...] Er verbindet das Abstrakte des Virtuellen und das Hyperkonkrete enger Lokalität und führt zu Desorientierung...“[14] Eine Entwicklung, die gegenwärtig beispielsweise an der zeitlich wie räumlich nicht eindeutig zu definierenden Auseinandersetzung der westlichen Welt mit dem Islamismus festzumachen ist. Umgangssprachlich wird „Schlachtfeld“ darüber hinaus auch synonym für Chaos verwendet, für materielle Disharmonie. Das Chaos der zerstörten Landschaft, der verwundete Körper findet so wiederum Eingang in die Sprache und Denkräume des Alltags. Vom Chaos ist Jürgen Klauke in seinem präzise angelegten Schlachtfelder-Tableau jedoch weit entfernt.
Blickt man auf das über vierzig Jahre umfassende Schaffen von Jürgen Klauke, so fügen sich die Schlachtfelder inhaltlich und formal nicht nur in die Linie seines Gesamtwerkes ein, sondern stellen zugleich eine logische, innovative Weiterentwicklung dar. Klauke ist ein Künstler, der in seinen Arbeiten von Anfang an eine erstaunliche thematische Bandbreite bewältigt, die, kondensiert auf die wesentlichen Aspekte, einige der wichtigsten Fragen menschlicher Existenz berührt und in manchen Bereichen gesellschaftliche wie wissenschaftliche Diskurse antizipiert hat. So hat Klauke ab den frühen 1970er-Jahren soziale, individuelle oder existentielle Grundfragen gestellt und vor allem im Bereich von (sexueller) Identitätserkundung allseits anerkannte künstlerische Pionierarbeit geleistet. Neben der Gender-Thematik sind vor allem das Motiv des Todes und der Modus der eigenen Existenz mit ihrer unabwendbaren Vergänglichkeit hervorstechende Schwerpunkte in seinem Werk. Eros und Thanatos bilden dabei in seinem Schaffen die sprichwörtlichen zwei Seiten derselben Medaille: Wenn Klauke sich seit frühester Zeit mit Geschlechterrollen und damit einhergehend in vielen Fotografien und Zeichnungen mit der (auch sozialen) Funktion von Geschlechtsteilen auseinandersetzt, so liegt hier neben dem gesellschaftlich relevanten Aspekt besonders durch die verknüpfende Thematisierung und motivische Verarbeitung der re-produktive Organe des Menschen mit seiner Vergänglichkeit auch eine Todesthematik vor. Schließlich ist es der Tod, der nach Heidegger dem Leben erst seinen Sinn gibt und das Leben als das „Sein zum Tode“ definiert.[15] So paradox sich die These auch anhören mag, aber ohne den Tod wären wir der „Langeweile der Unsterblichkeit“[16] ausgesetzt. Auf die Beziehung von Langeweile und Tod hat unter anderem Elisabeth Bronfen hingewiesen, indem sie herausstellte, dass man durch das überlange Anwesendsein in zeitlichen und räumlichen Dimensionen, „in eine Grenzsituation todesähnlicher Lähmung oder Erschlaffung“ geraten könne.[17] So hat auch Jürgen Klauke sich bereits 1980/1981 in seiner Werkserie Formalisierung der Langeweile mit diesem speziellen Aspekt des menschlichen Daseins eingehend beschäftigt. Seinen Kommentar zu diesem Thema, dem zu langen Anwesendsein in Räumen, hat er in zahlreichen Fotografien beispielsweise durch das Absorbieren des Körpers durch den Raum als Auslöschung der Existenz eindrücklich visualisiert. In unterschiedlichen Inszenierungsformen hat Klauke in seinem Werk explizit die Todesthematik immer wieder aufgegriffen, sei es zum Beispiel auf ironisch-makabre Weise durch die Präsentation von verschiedensten Suizid-Szenarien – so in Die Lust zu leben (1976; ausgestellt ein Jahr später auf der Documenta 6) –, oder wie etwa bei Stilleben (1983) aus der Serie Auf leisen Sohlen durch die Verwendung von realem Schlachtmaterial, das er en passant in Indien fotografiert hat. Und auch später tauchen immer wieder eindeutige Motive mit Todessymbolik auf. Bis auf den zuletzt genannten Einzelfall sind alle Arbeiten jedoch dem Bereich des Inszenierten, Imaginären zuzuordnen. Bei den Schlachtfeldern geht Jürgen Klauke jetzt darüber hinaus, indem er die artifizielle Welt der Selbstinszenierung zumindest teilweise verlässt, mithin auch das Atelier als den Ort der Bildproduktion, und in einen Schlachthof geht, um das reale Leben und zugleich auch den realen Tod in Form von unförmigen Körper- und Organteilen abzulichten.
Die motivische Verwendung von Schlachtstücken in der Kunst geht bekanntermaßen zurück bis ins 16. Jahrhundert, zu den Vanitas- und Prunkstillleben der niederländischen Malerei des Goldenen Zeitalters. Im 20. Jahrhundert haben Chaim Soutine und Francis Bacon einige der beeindruckendsten Darstellungen dieser Art geschaffen. Besonders Bacon war es, der sich ebenso wie Klauke von der Ästhetik des Fleisches, seinen Farben angezogen fühlte und kontinuierlich eine Todesthematik in seinen Werken erörterte. Durch die Verwendung von realem Schlachtmaterial haben die Wiener Aktionisten in den 1960er-Jahren eine Zäsur gesetzt und dabei die Scham und Ekelgrenzen überschritten. In ihren provozierenden Aktionen verwendeten sie kleinere Tiere bis hin zu ganzen Ochsen, die Hermann Nitsch in seinen Mysterienspielen ausweiden ließ. Jürgen Klauke geht es in seinen Schlachtfeldern jedoch nicht um einen performativen, aktionistischen Einsatz oder um die haptische und olfaktorische Erfahrbarkeit von Schlachtmaterialien, sondern um eine Ästhetisierung des Faktischen, um die „Schönheit des Schrecklichen“. Während zahlreiche Künstlerkollegen wie etwa Paul McCarthy, Matthew Barney oder Cindy Sherman künstliche Fleisch- und Körperteile in ihren Arbeiten verwenden – Jürgen Klauke hat dies bereits in den frühen 1970er-Jahren praktiziert, wie etwa bei Selbstperformance (1972/1973) oder Dr. Müllers Sex Shop (1977) –, so überbrücken seine Schlachtfelder die Distanz zur Realität des Dargestellten durch ihre unmittelbare visuelle Präsenz. Klauke kommt es dabei nicht auf eine voyeuristische Schockwirkung oder Ekel an, ganz im Gegenteil. Auch geht es ihm nicht um Verharmlosung oder oberflächliche Beschönigung der brutalen Wirklichkeit des Schlachtens. Vielmehr geht es darum, den persönlichen Umgang mit dem Tod, das Bewusstmachen der eigenen Vergänglichkeit und die Fragilität der Existenz zu thematisieren. Trotz der Ästhetisierung durch das Fokussieren auf nur wenige Details der Innereien oder das Blut, soll die Gewalt der Bilder erhalten bleiben. Jürgen Klauke hat daher bei den Schlachthofbildern auf das Eintönen verzichtet, um die farbliche Authentizität nicht zu reduzieren.
„Wir erreichen die Ekstase nicht, wenn wir nicht – und sei es nur in der Ferne – den Tod, die Vernichtung vor uns sehen“, schreibt Bataille 1956 in dem Vorwort zu seiner Erzählung Madame Edwarda, in der er ein einzigartiges Kaleidoskop aus Tabus, Überschreitungen, Ekstase, körperlicher Entäußerung und Selbstauflösung bis zum Tod darbietet.[18] Begrifflichkeiten, die sich mühelos auch auf das Werk von Jürgen Klauke anwenden lassen. Die Schlachtfelder, die momentan am Ende von Klaukes fotografisch-archäologischen Untersuchungen des (menschlichen) Körpers stehen, sind in ihrer Komplexität nur im Kontext des gesamten Schaffens durchdringbar. Sie umfassen unter anderen Aspekten die Lust am formlos Organischen, an der Ästhetik von schleimhautfeuchten Oberflächen, an der Vergänglichkeit. In der direkten Konfrontation mit dem insgesamt fast siebzehn Meter breiten Tableau wird mit der Farbgewalt der Fotografien die binäre Codierung des Daseins unausweichlich deutlich: Leben und Tod.
[1] Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung“, in: Ludwig Wittgenstein. Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1984, Band 1, 6.54.
[2] Ibid., 6.4311.
[3] Thomas Macho und Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, Fink, München, 2007.
[4] Die Angaben hierzu sind je nach Quelle schwankend. Gesichert scheint, dass mindestens 70 % der Menschen nicht im häuslichen Umfeld sterben. Vgl. hierzu z.B.: Franz Frielinger, „Das institutionalisierte Sterben. Sozioökonomische Aspekte des Sterbens“, in: Focus NeuroGeriatrie, 3, 2009, 6; oder: Sterben in Deutschland. [Interview mit dem Soziologen Reimer Gronemeyer], in: http://www.ard.de/themenwoche2008/gesundheit/sterben-in-deutschland/-/id=742958/nid=742958/did=767940/rozgyz/index.html (allerdings ohne weitere Quellenangaben).
[5] Günther Müchler, „Medien und Gewalt. Durch Abschalten verweigern“, in: Die Politische Meinung, Juni 2002, 5-10, hier 6. Müchler bezieht sich auf eine Untersuchung der Fernsehzeitschrift Hörzu aus dem Jahr 1998. Zwischenzeitlich dürfte die Zahl stark zugenommen haben; hinzukommen die entsprechenden Szenarien in Computerspielen.
[6] Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten [orig.: Regarding the Pain of Others], dt. v. Reinhard Kaiser, Hanser, München, Wien, 2003, S. 28.
[7] Georges Bataille, Der heilige Eros [orig.: L’Érotisme], hg. und übers. v. Max Hölzer, Luchterhand, Neuwied a. R. / Berlin-Spandau, 1963, S. 87.
[8] Georges Bataille, „Abattoir“ (1929), in: Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u.a., dt. hg. u. übers. v. Rainer Maria Kiesow, Henning Schmidgen, Merve, Berlin, 2005, S. 33.
[9] Diese und alle weiteren Informationen zu den Schlachtfeldern sowie die Zitate des Künstlers entstammen, soweit nicht anders vermerkt, einem Gespräch des Autors mit Jürgen Klauke, das am 10. Dezember 2009 in Köln stattgefunden hat.
[10] Siehe hierzu z. B.: Anja Zimmermann, Skandalöse Bilder – Skandalöse Körper. Abject art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Reimer, Berlin, 2001.
[11] Slavoj Zizek, „Jürgen Klauke oder die Abschirmung des Realen“, in: Absolute Windstille. Jürgen Klauke – Das fotografische Werk, Ausst.-Kat., Bonn/St. Petersburg/Hamburg, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn, 2001, S. 228.
[12] Birgit Richard, „Inkarnation der Untoten? Virtueller Tod und Leichen in den digitalen Medien“, in: Macho und Marek 2007, S. 593.
[13] Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 2, „Sein und Zeit“, Klostermann, Frankfurt/M., 1977, S. 343 und 337.
[14] Bernd Hüppauf, „Das Schlachtfeld als Raum im Kopf. Mit einem Postscriptum nach dem 11. September 2001“, in: Steffen Martus, Marina Münkler und Werner Röcke (Hg.), Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Akademie-Verlag, Berlin, 2003, S. 207, 208.
[15] Heidegger, 1977, S. 235-267: „Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode“.
[16] Bernard Williams, Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956-1972 [orig.: Problems of the Self. Philosophical Papers 1956-1972, London, 1973], dt. v. Joachim Schulte, Reclam, Stuttgart, 1978 (hier Kapitel 6: „Die Sache Makropulos: Reflexionen über die Langeweile der Unsterblichkeit“, 1972).
[17] Elisabeth Bronfen, „Das schöne Scheitern der Sterblichkeit. Zur hysterischen Bildsprache Jürgen Klaukes“, in: Absolute Windstille, Ausst.-Kat., 2001, S. 178.
[18] Georges Bataille, Vorwort zu „Madame Edwarda“, in: ders., Das obszöne Werk, (deutsche Übersetzung und Nachwort von Marion Luckow), Rohwohlt, Reinbek-Hamburg, 2002, S. 59.