Slavoj Zizek

Jürgen Klauke oder die Abschirmung des Realen



Jürgen Klauke - Absolute Windstille
Kunst- und Austellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001


Eine der Minimaldefinitionen der modernen Malerei betrifft die Funktion des Rahmens. Der Rahmen des Gemäldes, das wir vor uns sehen, ist nicht sein wirklicher Rahmen; es gibt einen anderen, unsichtbaren Rahmen, der von der Struktur des Gemäldes impliziert wird, den Rahmen, der unsere Wahrnehmung des Gemäldes einfaßt; zwischen diesen beiden Rahmen gibt es keine Überlagerung – es gibt eine unsichtbare Kluft, die die beiden voneinander trennt. Der zentrale Inhalt des Gemäldes findet sich nicht in seinem sichtbaren Bestandteil, sondern in der Verlagerung, in eben dieser Kluft. Diese Dimension des ›Zwischen-den-
beiden-Rahmen‹ ist offensichtlich bereits bei Kasimir Malewitsch präsent (was wäre sein Schwarzes Quadrat auf weißem
Grund anderes als die Minimalmarkierung der Distanz zwischen den beiden Rahmen?) und sogar bei Edward Hopper (einsame Gestalten in Bürogebäuden oder an nächtlichen Restauranttischen, als ob zum Bilderrahmen ein gleich großer Fensterrahmen
hinzukäme; oder, in den Portraits seiner an einem offenen Fenster stehenden, den Sonnenstrahlen ausgesetzten Frau, das entgegengesetzte Übermaß allein schon des gemalten Inhalts hinsichtlich dessen, was wir tatsächlich sehen – als sähen wir nur das Fragment des ganzen Bildes, die Aufnahme ohne eine entsprechende Gegenaufnahme), ganz zu schweigen von Edvard Munch
(Die Madonna: die Spermaspuren und die kleine fötusartige Gestalt aus Der Schrei in den Doppelrahmen hineingepreßt, zwischen die beiden Rahmen).
Selbst im Mainstream-Hollywoodkino ist diese unheimliche Zwischendimension deutlich wahrzunehmen. In der wohl wirkungsvollsten Szene in Alien 4 – Die Wiedergeburt (Alien 4: Resurrection, 1997) betritt die geklonte Ellen Ripley (Sigourney Weaver) den Laborraum, in dem die vorherigen sieben gescheiterten Versuche, sie zu klonen, ausgestellt sind – hier begegnet sie der obszönen Protorealität der ontologisch fehlgeschlagenen, defekten Versionen ihrer Person bis hin zu der fast gelungenen Version, die ihr zwar ihr eigenes Gesicht präsentiert, von deren Gliedmaßen aber manche so verzerrt sind, daß sie denen des ›Alien‹ ähneln. Diese Kreatur bittet Ripley, sie zu töten, und in einem heftigen Wutanfall zerstört Ripley die ganze Horror-Ausstellung. Die Unterwelt zwischen den beiden Rahmen ist also die präontologische Domäne obszöner Phantasien, die die (von uns als solche erfahrene) Realität ständig begleiten und ihren Schatten darauf werfen.
In Jürgen Klaukes Fall sollte man diese Dimension zwischen den beiden Rahmen besonders aufmerksam im Auge behalten – ohne den Bezug auf diese Dimension läßt sich das, was er in seinen faszinierend obszönen und schockierenden Bildern macht, nicht richtig verstehen. Aus einem sehr präzise benennbaren Grund: Seine Arbeiten heben diese Dimension zwischen den beiden Rahmen auf – auf welche Weise? Indem er ›normale‹ menschliche Körper grotesk sexualisierten Verzerrungen unterwirft (kegelartig hervorstehende Brüste, gargantueske Penisse usw.) und damit die obszöne Protorealität dessen, was zwischen den beiden Rahmen lauert, auf unsere ›normale‹ körperliche Realität projiziert, verletzt er absichtlich die Grenze, die den inneren vom äußeren Rahmen trennt. In seinen Arbeiten dringt die obszöne Unterwelt in die ›natürliche‹ sichtbare Realität selbst ein und verzerrt sie unmittelbar. In diesem ganz präzisen Sinne führt Klauke ein visuelles Äquivalent zu Kafkas Wahrnehmung der Welt vor Augen, wie sie von Milena Jesenská in einem Brief an Max Brod beschrieben wurde: »... vor allem sind für ihn das Geld, die Börse, die Devisenzentrale, eine Schreibmaschine völlig mystische Dinge (und sie sind es ja in der Tat, nur für uns andere nicht), sie sind für ihn die seltsamsten Rätsel, zu denen er durchaus nicht so steht wie wir.«(1) In diesem Zusammenhang muß an die Marxsche Analyse des Warenfetischismus erinnert werden: Der Fetischcharakter der Dinge entspringt der gesellschaftlichen Realität, in der wir leben, nicht unserer Wahrnehmung dieser Realität – das bürgerliche Subjekt weiß sehr wohl, daß dem Geld nichts Magisches anhaftet, daß das Geld nichts weiter ist als ein Objekt, das für ein gesellschaftliches Beziehungssystem steht. Dennoch aber handelt es im wirklichen Leben so, als müsse es das Geld für etwas Magisches halten. Und damit erhalten wir einen präzisen Einblick in Kafkas Universum: Kafka konnte diese phantasmatischen Überzeugungen, die wir ›normalen‹ Menschen verleugnen, unmittelbar erfassen – das ›Mystische‹ in Kafkas Wahrnehmung ist das, was Marx als die »theologischen Mucken« der Warenwelt bezeichnete.(2) Und genau so ist auch Klaukes Werk strukturiert: Der in unserem Alltag verleugnete Fetischismus tritt in seinen Arbeiten unmittelbar hervor. Wir werden nicht mit der eigentlichen Realität der Dinge (im Gegensatz zu unseren Vorstellungen von den Dingen konfrontiert), sondern mit unseren eigentlichen Überzeugungen über die Dinge (im Gegensatz zu dem, was wir für unsere Überzeugungen halten).
Was genau ist dann der Status dieser obszönen Protorealität grotesker Monster? Auf den ersten Blick könnte es den Anschein haben, daß sie einfach nur für das gewaltsame Eindringen eines bestimmten ›Realen‹ steht, das für das Subjekt zu traumatisch ist, als daß es dies ertragen könnte: Im ›normalen‹ Leben halten wir achtsam Distanz zu dieser Dimension, und ihre Unterdrückung scheint nichts anderes zu sein als die Bedingung der Selbstidentität des Subjekts, denn wenn diese Dimension sich unmittelbar manifestieren würde, zerfiele das sehr fragile symbolische Spinngewebe, das unser Ich ausmacht. Aber trifft nicht vielmehr das Gegenteil zu? Sind die monströsen Realitätsverzerrungen nicht genau das, was das unterdrückte Innerste des wahrnehmenden Subjekts selbst der Realität aufprägt? Ist es nicht so, daß diese Verzerrungen nichts anderes sind als Objektivierungen unseres Blicks, Aufschriften des Blicks auf den gemalten Inhalt – was sich zwischen den beiden Rahmen befindet, ist letztendlich der Blick selbst.
Wie genau sollen wir uns diese Aufschrift begreiflich machen? Die symbolische Ordnung, die unsere Wahrnehmung der Realität strukturiert, wird für gewöhnlich als eine Art Mittler zwischen dem Subjekt und dem rohen, unerträglichen Realen aufgefaßt: Sie fungiert als die ›Abschirmung‹, die uns vom Realen trennt, die die ›Wüste des Realen‹ erträglich macht. An dieser Stelle darf jedoch nicht die radikale Ambiguität des Lacanschen Realen vergessen werden: Es ist nicht der letzte Referent, der durch die Abschirmung der Phantasie zugedeckt/aufgewertet/domestiziert wird – das Reale ist auch und vor allem die Abschirmung selbst als das Hindernis, das unsere Wahrnehmung des Referenten, der Realität dort draußen, immer gleich schon verzerrt. Wie sollen wir das verstehen?
Hilfreich sein könnte hier die exemplarische Analyse der räumlichen Anordnung der Hütten in den Dörfern der Winnebago, eines nordamerikanischen Indianerstammes, der im Gebiet der Großen Seen lebte, in der Strukturalen Anthropologie (1958) von Claude Lévi-Strauss. Die Winnebago waren in zwei Untergruppen (»Hälften«) unterteilt, »die von oben« und »die von unten« (»die, die auf der Erde leben«). Wenn ein Winnebago den Plan seines Dorfes auf ein Blatt Papier oder in den Sand zeichnete, dann stellte sich die Anordnung der Hütten für einen Angehörigen der ersten Untergruppe ganz anders dar als für einen der zweiten. Beide nahmen das Dorf als einen Kreis wahr; doch für den einen wurde dieser Kreis durch eine klare Trennlinie in zwei Hälften unterteilt, während es für den anderen innerhalb dieses Kreises einen weiteren aus Hütten gebildeten Kreis gab, so daß wir es mit zwei konzentrischen Kreisen zu tun haben. Mit anderen Worten: Ein Angehöriger der ersten Untergruppe (nennen wir sie ›konservativ-
korporativ‹) sieht sein Dorf als zwei durch eine unsichtbare Grenze deutlich voneinander getrennte Ansammlungen von Hütten, während ein Angehöriger der zweiten (›revolutionär-antagonistischen‹) Untergruppe die Anlage des Dorfes als einen mehr oder weniger symmetrisch um die Hütten der Häuptlinge der jeweiligen Hälften angeordneten Ring aus Hütten wahrnimmt.(3) Nachdrücklich betont Lévi-Strauss, daß wir uns von diesem Beispiel nicht zur Annahme eines kulturellen Relativismus verleiten lassen sollten, demzufolge die Wahrnehmung des sozialen Raums von der Gruppenzugehörigkeit abhängt: Die Aufspaltung in zwei
›relative‹ Wahrnehmungsmöglichkeiten impliziert an sich einen versteckten Verweis auf eine Konstante – nicht die objektive, ›tatsächliche‹ Anordnung der Hütten, sondern einen traumatischen Kern, einen fundamentalen Antagonismus, den die Dorfbewohner nicht symbolisieren, erklären, ›internalisieren‹, bewältigen konnten, ein Ungleichgewicht in den sozialen Beziehungen, das eine Stabilisierung der Gemeinschaft zu einem harmonischen Ganzen verhinderte. Die beiden verschiedenen Wahrnehmungen des Dorfplans stehen einfach nur für zwei sich gegenseitig ausschließende Bestrebungen, mit diesem traumatischen Antagonismus zurechtzukommen, seine Wunde zu heilen, indem ihm eine ausgewogene symbolische Struktur aufgelegt wird. Ist es noch notwendig hinzuzufügen, daß wir es hinsichtlich der Geschlechtsdifferenz mit genau demselben Phänomen zu tun haben, daß ›männlich‹ und ›weiblich‹ den beiden Hüttenkonfigurationen entsprechen? Und um von vornherein die Illusion zu zerstreuen, unser ›entwickeltes‹ Universum werde nicht von eben dieser Logik beherrscht, sei nur an die Aufspaltung unseres politischen Raums in links und rechts erinnert: Ein ›Linker‹ und ein ›Rechter‹ verhalten sich genau so wie die gegensätzlichen Untergruppen in dem von Lévi-Strauss beschriebenen Dorf. Sie nehmen nicht nur verschiedene Orte im politischen Raum ein; sie nehmen auch die grundsätzliche Aufteilung des politischen Raums jeweils anders wahr – für einen Linken ist er durch einen ihm inhärenten fundamentalen Antagonismus gespalten, für einen Rechten die organische Einheit einer Gemeinschaft, die nur durch fremde Eindringlinge gestört wird.
An dieser Stelle ist genau zu sehen, wie das Reale interveniert – durch Anamorphose. Zunächst haben wir die ›objektive‹, ›tatsächliche‹ Anordnung der Hütten, und dann die zwei verschiedenen symbolischen Darstellungen, die beide diese Anordnung anamorphotisch wiedergeben. Das ›Reale‹ ist hier jedoch nicht die tatsächliche Anordnung, sondern der traumatische Kern des sozialen Antagonismus, der die Sicht der Stammesangehörigen auf den tatsächlichen Antagonismus verzerrt. Und dasselbe gilt für Klauke: Wenn in seinen Arbeiten das Reale in der Gestalt entstellter und um obszöne Komponenten ergänzter Körper brutal in die Wahrnehmung des Betrachters eindringt, dann haben wir es nicht mit dem nicht mehr domestizierten, zensierten, durch den Schirm der symbolischen Ordnung gefilterten ›rohen‹ Realen zu tun, sondern vielmehr mit den anamorphotischen Verzerrungen der Realität, in denen das Innerste des Subjekts, seine obszönen Wünsche und Phantasien, unmittelbar externalisiert sind. Deshalb darf Klaukes Universum nicht mit der dekadenten spätromantischen Ideologie der Lust am Zerfall verwechselt werden, wie sie von Rilke in der ersten Duineser Elegie (1912) auf den Punkt gebracht wurde. Hier lesen wir die berühmte Behauptung: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, ...« – Warum? »..., weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.«(4) Ein weiteres, etwa zur selben Zeit entstandenes Paradebeispiel für diese Ideologie der Dekadenz ist Thomas Manns Novelle Der Tod in
Venedig (1911). Hier zieht die gelassen teilnahmslose Erscheinung des schönen Tadzio das Alter ego des Autors in den moralischen und physischen Zerfall. Welch ein Abgrund trennt diese hemmungslose Dekadenz z.B. von der ›untoten‹ Wunde in Kafkas Ein Landarzt (1918).: »In seiner rechten Seite, in der Hüftengegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung. Wer kann das ansehen ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt,
winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht.«(5)
Nimmt diese packende Beschreibung nicht Klaukes zudringliche Bilder vorweg, trifft sie nicht genau auf seine Darstellungen menschlicher Körper zu?
Die inhärent obszöne Natur der unmittelbaren Externalisierung war bereits Hegel klar. Im Abschnitt c des Unterkapitels »Die natürliche Religion« seiner Phänomenologie des Geistes (1807) entwickelt er den Gedanken der Religion des Werkmeisters: Im religiösen Künstlertum der Ägypter bemüht sich das Bewußtsein darum, sich zum Ausdruck zu bringen, was ihm jedoch nicht gelingen will. Es bleibt eine Kluft zwischen dem Inneren und dem äußeren Ausdruck, der nur ein »unwesentliches Gehäuse«, die »Decke des Inneren« ist.(6) Damit dieses Innere in seinem verfehlten Ausdruck verharren kann, muß eben diese Kluft zwischen dem Inneren und seinem unzulänglichen Gehäuse reflexiv in die objektive äußere Realität eingeschrieben werden, in der Gestalt eines äußeren Objekts, worin das Innere eine unmittelbare Existenz erlangt – und dieses Innere ist »die einfache Finsternis, das Unbewegte, der schwarze formlose Stein«(7). Diese neue Version des »der Geist ist ein Knochen«-Themas verweist natürlich anachronistisch auf den schwarzen Stein in der Kaaba in Mekka, den zum Heiligtum des Islams erhobenen dunklen formlosen Meteoriten.
Die anale Assoziation ist hier völlig berechtigt: die unmittelbare Erscheinung des Inneren ist formlose Scheiße.(8) Das Kleinkind, das seine Scheiße zum Geschenk macht, verschenkt gewissermaßen das unmittelbare Äquivalent seines inneren Ich. Freuds bekannte Gleichsetzung der Exkremente mit der Urform des Geschenks, eines innersten Objekts, das das Kleinkind seinen Eltern schenkt, ist also nicht so naiv, wie es scheinen mag: Der oft übersehene Punkt ist der, daß dieses dem anderen dargebotene ›Stück von mir‹ radikal zwischen dem Erhabenen und – nicht dem Lächerlichen, sondern, ganz genau – dem Exkrementalen oszilliert. Deshalb ist es für Lacan eines der Merkmale, das den Menschen von den Tieren unterscheidet, daß die Ausscheidung von Scheiße für den Menschen zum Problem werden kann: nicht ihres Gestanks wegen, sondern weil sie aus unserem Innersten kommt. Wir schämen uns unserer Scheiße, weil wir mit ihr unsere innerste Intimität freisetzen/externalisieren. Tiere haben damit kein Problem, weil sie kein ›Inneres‹ wie die Menschen haben. Angebracht ist hier der Verweis auf Otto Weiningers Ausruf: »Die Lava ist der Dreck der Erde.«(9) Die Scheiße kommt aus dem Inneren des Körpers, und dieses Innere ist böse, schlecht: »Das Innere des Körpers ist sehr verbrecherisch.«(10) Wir begegnen hier derselben spekulativen Ambiguität wie der des Penis, des Organs des Urinierens und der Fortpflanzung: Wenn unser Innerstes unmittelbar externalisiert wird, ist das Ergebnis abstoßend.
In der Psychoanalyse fällt diese unmittelbare Externalisierung unter den Begriff des Über-Ich. Erinnert sei an zwei Filme, in denen Jim Carrey die Hauptrolle spielt, Der Dummschwätzer (Liar Liar, 1996) und Die Maske (The Mask, 1994). In beiden Filmen geht es um einen ›ex-timen‹ (von außen auferlegten, aber dem innersten Trieb entsprechenden) absoluten Zwang: In Die Maske steht der Held unter dem Zwang, sich seiner Rolle als ›irre‹ comicartige Figur lustvoll hinzugeben, sobald die Maske Besitz von ihm ergreift; in Der Dummschwätzer verspricht ein Anwalt seinem Sohn, 24 Stunden lang nichts als die Wahrheit zu sagen, und wird damit unter den Zwang gesetzt, dieses Versprechen einzulösen. Eine unheimliche Homologie: In beiden Fällen erfährt das Subjekt die Hingabe an sein innerstes Ich als Kolonisierung durch einen parasitischen Eindringling, der gegen seinen Willen Besitz von ihm ergreift, wie eine banale Schlagermelodie, die einem im Kopf herumspukt – so sehr man sich auch dagegen wehrt, schließlich erliegt man ihrer mimetischen Macht und bewegt sich nach ihrem stupiden Rhythmus.
Das Unheimliche ist hier die Parallelität zwischen ›jouissance‹ und Wahrheit, zwischen dem Zwang, sich einer Lust hinzugeben, und dem Zwang, die Wahrheit zu sagen, was nichts anderes bedeutet, als daß die Wahrheit selbst die Funktion des Realen übernehmen kann: In beiden Fällen beraubt das Über-Ich das Subjekt seiner Autonomie; es fungiert als ein Zwang, der das Subjekt zu einer hilflosen Puppe macht. Und darin liegt vielleicht die eigentliche Lektion, die Klaukes Arbeiten uns erteilen: statt sich (wie die beiden Carrey-Filme) diesem Zwang des Über-Ich zu beugen und seine perversen Potentiale zu feiern, zwingen sie uns, uns dieser Potentiale bewußt zu werden, ihnen in all ihrem Ekel gegenüberzutreten. Ekel stellt sich dann ein, wenn wir dem Objekt der Begierde zu nahe kommen – man denke an das bekannte Minnemotiv der schönen Dame, die sich, wenn man ihr zu nahe kommt, in ein abscheuliches Geschöpf mit einem Gesicht voller Würmer verwandelt.
Lust und Ekel sind deshalb aufeinander bezogen wie die beiden Seiten eines Möbiusschen Bandes: Schreiten wir weit genug auf der Seite der Lust voran, finden wir uns plötzlich im Ekel wieder. Darin liegt auch die Erklärung für die beiden paradoxen Phänomene, daß wir Lust im Ekel und Ekel in der Lust finden können. Wir alle kennen die Faszination, die ein ekelerregendes Objekt auf uns ausüben kann: Wir schrecken davor zurück, nicht jedoch ohne verstohlene Blicke darauf zu werfen, da es uns nicht aus
seinem Bann läßt. Das entgegengesetzte Phänomen ist nicht weniger bekannt: Ist ein Fetischist mit dem Objekt konfrontiert, das ihm eine intensive Lust verschafft, wird er zunächst von einem Gefühl des Widerwillens überwältigt. Ein unmittelbares Empfinden der Lust ist ihm nicht möglich – sein innerer Zensor gestattet ihm die Lust nur, wenn sie durch diesen Widerwillen in Schach gehalten, gefiltert wird, wenn sie als etwas Ekelhaftes erfahren wird.
Und ist nicht die Umkehrung des Ekels in der Lust in Lust im Ekel die prägnanteste Formel für Klaukes Arbeiten, für die beiden Pole unserer Wahrnehmung seiner Arbeiten? Zunächst sind wir von der Lust abgestoßen, die wir beim ersten Anblick empfinden; im manchmal langen Prozeß des ›Durcharbeitens‹ überwinden wir dann den Zensor in uns selbst und akzeptieren die Lust, die wir in diesem Ekel finden.


Anmerkungen

  1. Zitiert nach Franz Kafka: Briefe an Milena, hrsg. v. Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt a. M. 1983, S. 363
  2. Karl Marx: Das Kapital, Erster Band [1867], In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23. Berlin 1977, S. 85
  3. Claude Lévi-Strauss: »Gibt es dualistische Organisationen?«. In: Strukturale Anthropologie [Anthropologie Structurale, 1958],
    aus dem Französischen von Hans Naumann. Frankfurt a.M. 1967, S. 148-180; die Zeichnungen finden sich auf S. 150
  4. Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Sämtliche Werke, hrsg. v. Rilke-Archiv, besorgt durch Ernst Zinn, Band I. Frankfurt a.M. 1955, S. 685
  5. Franz Kafka: Ein Landarzt [1918], zitiert nach Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hrsg. v. Roger Hermes
  6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], Werke in 20 Bänden, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 511
  7. Ebenda
  8. Siehe Dominique Laporte: Histoire de la Merde. Paris 1978
  9. Otto Weininger: Über die letzten Dinge [1904]. München 1980, S. 187
  10. Ebenda, S. 188