Hans-Michael Herzog (Hg.)
Jürgen Klauke „PROSECURITAS“
Kunsthalle Bielefeld, 1994, Cantz
Manfred Schneckenburger
SCHIRMGERIPPE VOR VERLORENEM HORIZONT
Die optische Temperatur im Saal sank spürbar ab. Das sechs Meter breite, blaue Bild hob sich als eigene Klimazone aus den bunten und grauen Bildern der documenta 8 (Abb. S. 32, 22, 108). Ein Blau zwischen körperloser Transparenz und opaker Monochromie rückte das Tableau in einen Schwebezustand, der Nähe mit Ferne verband. Das digitale Punktraster und die abgerundeten Formatecken erinnerten an die tägliche Mattscheibe, die geisterhaften Konturen an ein spiritistisches Phantom. Eine kühle Bildwelt schien af und zog sich zurück.
Ohne Abstand ragen zwei Köpfe ins Bild, doch sie verflüchtigen sich in einer ätherischen Distanz. Sie werden unter dem Röntgenblick durchsichtig; Körperhohlräume, Gaumen, Luft- und Speiseröhre zeichnen sich weiß heraus, Knochengerüste leisten der Durchleuchtung flächigen Widerstand. Transzendenz meint hier zweierlei: Eine empirische Röntgenaufnahme mit einem metaphysischen Oberton; aber auch eine neue fotografische, fotomalerische Möglichkeit: Schatten, helle Zonen, Linienbündel lesen sich eben nicht mit den Augen des Röntgenologen oder Sicherheitskontrolleurs, sondern als Lichthöhungen, feinste Lasuren, zarter Rastergrund. Röntgenblick und Kameraauge legen nicht nur bloß, sondern umhüllen wie ein Weichzeichner.
Haben wir uns an Kälte und Ferne gewähnt, tritt ein makellos gebautes, sorgsam komponiertes Bild hervor: Ein Diptychon, das mit Aspekten eines Triptychons verschmilzt. Es ist – nur technisch bedingt? – aus drei verschiedenen Aufnahmen zusammengesetzt. Die Köpfe besetzen de Flügel: Rechts über die ganze Höhe und Breite ins Bild gewendet, links kleiner, mit verlorenem Profil aus dem Bild gedreht. Zwischen dem größeren, nahen und dem kleineren, fernen Kopf spannt sich eine imaginäre Diagonale, die leicht in die Tiefe läuft. Sie wird von einem sprungbrettartigen Balken überkreuzt, auf dem sich zwei Silhouetten gegenüberstehen. Ein Vorstoß von rechts aus einem Gewirr dünner Linienknäuel, ein Zurückweichen links, über die Bildmitte hinaus bis zur Balkenkante – kippt die Figur gleich über den Rand? Führen die Schemen eine computerisierte Kampfsportart vor? Sind die beiden jugendlichen Köpfe Drahtzieher in diesem Spiel? Tritt der linke Spieler, wie die linke Figur, hinter dem größeren, beherrschenden rechten Spieler zurück? Dürfen wir von der Formensprache auf Angriff und Abwehr schließen? Im halb aufgespannten Schirm ein Zeichen von Schutzbedürftigkeit sehen? So falsch es wäre, das Bild einfach nach einer Geschichte oder konkreten Situation abzufragen – die Polarisierung von Doppelgängern um einen aggressiven Akt ist ein altes Thema Klaukes.
Bei aller narrativen Annäherung, allen Assoziationen an Kampf- und Computerspiel, bleibt die Szene hermetisch und fremd. Das ist keine gläserne Welt, die sich öffnet, eher eine Welt, in der wichtige Bedingungen unserer Wahrnehmung aufgehoben und durch das Gesetz des Röntgenapparates ersetzt sind. Eine Welt, die Klauke aus Nutzfunktionen löst und deren mediale Sicht er in Bilder umsetzt.
Denn das ist sein Anliegen, noch bevor es ihm um inszenierte – fotografische oder gemalte – Analysen der Gesellschaft geht. Klauke ist auf der Suche nach Bildern, die weder malerische Urzeugungen noch Bilder über Bilder sind. Er meidet die ausgetretenen Pfade der Innerlichkeit mit ihrer informellen Evokation und expressiven Gestik, und er meidet die eurhythmische Selbstfeier der abstrakten Malerei. Er verspürt auch keinen Hunger nach Bildern, der doppelt zugreift und doppelt bedient: mit Bildern, die vorhandenen Bildwelten entnommen sind. Er reagiert nicht einmal (wie ein erster Blick nahe legt) auf die neue, sekundäre Wirklichkeit im Gefolge der fotografisch, filmisch, elektronisch reproduzierten Welt. Er hat seine Bilder nie in allseits zugänglichen Gärten gepflückt, sondern stellte von Anfang an, seit über 20 Jahren, eigene, unvertraute Bildwelten dar. Der Moment der Urzeugung ist dabei in die genau kalkulierte Erfindung verlegt. Klauke zieht sich auf keinen auratischen Malgestus zurück, aber er hält an der Aura des Bildes fest. Er weicht dem postmalerischen Medium technischer Reproduzierbarkeit nicht aus, aber er reflektiert es nicht explizit. Er rettet die Aura des Bildgedankens in den Gebrauch von Kamera und Labor.
Der frühe Klauke verband Archaisches und Mythologisches mit einer präzisen zeitgenössischen Psychologie und einer subkulturellen Provokation, Rituelles mit Tabubrüchen und dem Kribbel der Blasphemie – was sich ohne große psychoanalytische Verrenkungen in sexuellen Tiefenschichten verankern ließ.
Der spätere Klauke – die strengen Räume der Schwarzweißfotos – inszenierte ein Beckettsches Endspiel, in dem die Requisiten gleichrangige stumme Mitspieler sind. Die Polarität „MASKULIN-FEMININ“ findet ihre Lösung (Erlösung?) in androgynen Metamorphosen von berückender Magie. Das alte romantische Motiv der Persönlichkeitsspaltung wird durch Mehrfachbelichtung konkret. Der Kampf des Menschen mit den Tücken einer zweckrationalen, funktionalen Welt verdichtet sich zur Corrida mit dem eigenen Stuhl. Ob Polarität der Geschlechter, menschliche Aggressivität, Identität oder Depressivität – Klauke illustriert weder Obsessionen noch Ideen, sondern richtet authentische Bildwelten auf. Er setzt der Bilderverwertung neue, unverbrauchte Bilder entgegen: Spiegel, in denen wir uns als Fremde sehen.
Hier knüpft der PROSECURITAS“-Zyklus an. Klauke verändert die Wahrnehmung, aber er gibt ihr nun auch veränderte äußere Bedingungen vor. Das ist neu, so verblüffend einfach, ja nahe liegend das Verfahren ist. Ein raffinierter Laborzauberer war Klauke nie. Auf dem Flughafen arrangiert er in der Nacht Gegenstände im Durchleuchtungsapparat für Gepäck. Manchmal kriecht er selber dazu oder schiebt den Kopf in den Kofferschacht. Das Röntgenbild auf dem Kontrollschirm wird mit einer Sechs x Sechs-Kamera abfotografiert. Die Möglichkeit, es heller und dunkler zu stellen, erlaubt ein Spektrum vom düsteren Nocturno bis zur Überblendung im gleißenden Licht. Schärfere oder weniger scharfe Fokussierung härtet die Umrisse oder weicht sie auf. Tonwerte, Dichte, Plastizität sind auf diese Weise veränderbar. Das scharf gezeichnete Liniengespinst eines Schirms kontrastiert mit einer verschatteten Fleckenmalerei. Der Finger am Drehknopf ersetzt die Mal- und Zeichenhand, ohne dass die malerischen, zeichnerischen Nuancen verloren gehen. Im Gegenteil, die Stufen der Durchdringung bringen eine eigene Dynamik der Massen und Valeurs hervor. Randsprünge auf dem Monitor machen flexibel für engere und weitere Ausschnitte, die ein anderes Medium so nicht kennt. Das Bild kann stehen bleiben, während das Arrangement im Kofferschacht zu lockerer Streuung oder strengem Formenbau verändert wird. So besitzt Klauke schon auf der ersten Stufe, im Apparat, ein hohes Maß an Kontrolle und ein breites gestalterisches Repertoire.
Das Ergebnis dient als Material für den weiteren Arbeitsprozess. Die Fotos werden auf dem Leuchttisch geschnitten, zwischenkopiert, gedreht, vergrößert, mehrfach belichtet, manchmal übermalt. Negativ-Formen treten neben Positiv-Formen, eine Farbe (das Lichtpausenblau) wird ausgefiltert. Das alles entspringt keiner Lust am fotografischen Experiment, sondern einer gezielten Bildvorstellung, deren Vehikel Röntgengerät und Kamera sind – auch ein Weg, weiter zu malen. Werner Hofmann hat diese kühle Lust zum Bild in einen größeren Rahmen gerückt und Klaukes „exzessive Bildmagie“ in den Zwiespalt zwischen moderner, postkantianischer Reflexion und „blasphemischer Katholizität“ gestellt. Klauke lebt, so gesehen, die alte, katholische (rheinische?) Bildersinnlichkeit nach. Vielleicht geben, nachdem Klauke die Travestie und die Liturgien der Selbstfindung hinter sich gelassen hat, jetzt die altargroßen Triptychen Hofmann Recht. Vielleicht sitzt das Bedürfnis, die Welt mit Bildern und in Bildern zu durchdringen, auch tiefer als jedes geistesgeschichtliche Koordinatensystem. Klaukes Suche nach unverbrauchten Bildern könnte ebenso gut seine Abrechnung mit den grassierenden visuellen Ersatzreligionen sein, bis hin zum Fetischismus der Warenästhetik und Werbewelt.
Es liegt nahe, die durchleuchteten Körper und Objekte im Griff einer totalen Kontrolle zu sehen. Als Zeugnis des gläsernen Menschen in einem Jahr „1984“, das nicht zu Ende geht. Der Zyklus würde dadurch zu einem höchst brisanten, kulturkritischen und politischen Stück. Aber er öffnet sich auch noch anderen Betrachtungsweisen. Die Penetration der schützenden Ummantelung, die Aufhebung von Perspektive, Fluchtpunkt, Horizont, Oben und Unten, das Ende aller statischen Sicherheiten, die Ortslosigkeit im schwerelosen Raum – das alles berührt Alpträume in Schattenreichen, signalisiert jedoch ebenso ein postperspektivisches Weltbild, in dem die alten topographischen, anthropozentrischen Hierarchien und Cartesianischen Raster verschwunden sind. Klauke treibt die Bestandsaufnahme dieses neuen Universums voran. Doch G.J. Lischka beschränkt zu Recht: „Die Seele und die Gedanken können eben nicht durchleuchtet werden... Bei der Erforschung der existentiellen Bedingungen kommt hier deutlich zum Ausdruck, dass es bei den elektronischen Überwachungsgeräten nur noch um die Registratur von An- und Abwesenheiten geht“. Der Röntgenblick legt nicht nur bloß, sondern räumt auch Reservate ein und hält Freiheiten offen.
Das gilt bereits für die erste Arbeitsphase am Monitor, nicht weniger für die zweite Arbeitsphase am Leuchttisch und im Labor, vollends aber gilt es für die endgültige künstlerische Montage: Die Motive gehen nicht im Geflirre des Punktrasters auf und verstreuen sich nicht richtungslos im Raum. Klauke kontert die elektronische Auflösung und den verlorenen Horizont durch eine strenge Bildordnung. Die Statuette, die häufig wiederkehrt, hat einen sicheren Stand und legt so doch wieder Oben und Unten fest. Der halb oder ganz aufgespannte Schirm markiert auch ohne Bodenlinie Anhaltspunkte zwischen Himmel und Erde. Gewiß, nichts ist festgeschrieben, die Topographie bleibt schwebend, doch die Gravitation gibt ihre Orientierungen nicht auf. Der schwerelose Raum löste keine Taumel aus, sondern ist mit festen Bindungen durchsetzt. Die Ästhetik der Auflösung und Transparenzen führt in kein Niemandsland, sondern hält an konstruktiven Gerüsten, Korrespondenzen und Symmetrien fest.
Eine Tendenz zur stabilen Dreizahl gipfelt in de Vorliebe für die strengste Ordnung: Klauke variiert mehrfach das Triptychon. Im Triptychon werden der Ortslosigkeit Grenzen gesetzt. Mitte und Seiten sind klar definiert. Das schließt sich an die Traditionslinie einer „Pathosformel“ an, die jahrhundertelang für ideelle oder ideologische Botschaften und eine übergreifende Symbolik stand. Das Triptychon besitzt, mehr als jedes andere Format, den Anspruch, auch „Weltbild“ zu sein. Selbst simple Alltagsutensilien wie Stuhl, Schublade, Eimer gewinnen hier eine feierliche Statuarik, die Bedeutung zelebriert. Das Triptychon baut einer Welt, die sich in horizontlosen Tiefen und Offenheiten verliert, klare Ordnungen ein. Es macht manifest, dass die Schattenspiele und Grauzonen auf dem Bildschirm mehr als ein Röntgenstillleben mit Künstler sind, nämlich Ausdruck einer dissoziierten Welt. Aber es richtet auch neue Orientierungsachsen und Hierarchien auf, die Klauke gleich wieder unterläuft. Es betont und kontert die dissoziierte Welt in eins.
Auch der diptychonale Grundtypus bringt Vorgaben mit. Er strukturiert (nach römischen Frühformen) seit dem Spätmittelalter das Nebeneinander zweier Personen in Trennung und Bezug, ob dies nun eine Madonna mit Stifter oder zwei Eheleute sind. In den beiden Bildern „SCHLAFSTÖRUNG“ (Abb. S. 55, 59) sind dunkle Schatten durch eine verschwimmende vertikale Zone getrennt. Der eine Schatten nähert sich durch artikulierte Hände und Finger einem Torso an. Hinter der Armbeuge ruht ein maskenhafter, wie schlafender Kopf, dessen plastisches Profil der Durchleuchtung widersteht. Der andere Schatten verwischt sich zu einer Wolke, in der gerade noch ein menschlicher Umriß ahnbar ist. Die Bilder fassen eine Alptraumszenerie in eine diptychonlae Anordnung, die sich um eine imaginäre Mittelachse legt.
Am Rande: Klauke hat auch sonst keineswegs alle Fäden zur Kunstgeschichte gekappt. Selbst der entscheidende Schritt zum Durchleuchtungsgerät vollzieht sich nicht im völlig luftleeren Raum. Befinden sich in Klaukes Sammlung nicht melanesische, australische Beispiele des Röntgenstils? Führt es zu weit, an die kristallinen Prismen des Zeitstils von 1913/14 zu erinnern, an Strahlungen, die Oberflächen aufbrechen und mit einem Universum sich durchdringender Energien vereinigen? Ich will keineswegs künstliche Brücken schlagen, doch die Idee, das Innenleben der Außenwelt wörtlich umzusetzen, ist ein alter Traum der Kunst. Ray Bradbury hat daraus ein Hauptmotiv seiner Novelle „Der illustrierte Mann“ gemacht, auf dessen Haut alle Regungen und Gefühle als farbige Klimazonen und Lineaturen zutage treten. Die „PROSECURITAS“-Bilder gehen nicht so weit. Doch in Klaukes Tagebuch von 1978 findet sich die Reihe „KAPPES-KÖPFE NACH ALLEN REGELN DER KUNST“: Die Kopfzeichnungen in Eiweißlasur könnten wunderbar abstrakte Illustrationen zu den Phantasien Bradburys sein.
Klauke verdankt seine Vorstellung von Transparenz und Auflösung also keineswegs dem Anstoß der Apparate. Der Weg verläuft umgekehrt: Von der Vision über die Suche nach einem geeigneten Mittel zum Röntgenbild. Der Künstler benützt das Gerät lediglich. Jahre vor den ersten „PROSECURITAS“-Bildern zeichnete er in einem 55seitigem Konzeptbuch mit feiner Tuschfeder, dazu manchmal auch mit Pinsel, prähistorisch wirkende Strichfiguren und Tiere. Die Reihe heißt „DAS INNENLEBEN DER DINGE“ (Abb. 19, S. 20). Um Liniengerüste sind hellere Körper und Konturen gelegt. Steinböcke, Kamele, Giraffen enthüllen subkutane Ornamentgeflechte oder Teile eines Skeletts. Andere Blätter nehmen den typischen Aufbau von Röntgenaufnahmen vorweg, in denen um ein festes Gerüst mehrfach abgeschattete, sich aufhellende Silhouetten geschmiegt sind. In der Reihe „AUF LEISEN SOHLEN“ findet sich schon 1981 ein weichpinselig hingestrichener Torso mit durchlässigem Fleisch und massivem Skelett. Gemalte Variationen über den „GRIFF INS LEERE“ (Abb. 11, 12, S. 15) zeigen Schattenfiguren mit verfließenden Umrissen und Schichten von wechselnder Konsistenz. Durchsichtigkeit, Verzweigung, Verästelung, partielle Auflösung des Körpers, seine Metamorphosen ins Ornamentale, sein Verdämmern in Dunkelheiten spielen in viele Arbeiten Klaukes herein, lange bevor er seine nächtlichen Exkursionen zum Flughafen unternimmt. „PROSECURITAS“ führt frühere Imaginationen fort, erweitert Inventar wie Sprachmittel und gibt ihnen eine aktuelle medial Brisanz.
Dabei ist die Bestückung erstaunlich begrenzt. Der Reichtum entspringt keiner Vielzahl von Motiven, sondern den atmosphärischen Wechseln zwischen Verschattung und Luzidität, Melancholie und einer tänzerischen Equilibristik im Licht. Immer wieder: Klauke selber als überschlankes Phantom, dessen Ikonographie von der „SELBSTFINDUNG“ (Abb. S. 68, 69) über die „ÄSTHETIK DES VERSCHWINDENS“ (Abb. S. 80, 81) bis zum „TOTOEN FOTOGRAFEN“ (Abb. S. 83) reicht. Drei Maskenprofile, um die in Serpentinen Drähte gesponnen sind: Selbstdarstellungen zwischen spiritistischem Mysterium und rhythmischem Rapport. Eine ethnographische Statuette, ein Schirm (der sich als ideales Röntgenobjekt erweist), Torsi, Köpfe, Masken, ein behälterartiges Drahtgestell. Eine Schublade, ein Eimer, ein Stuhl. Die Requisiten der „KULTURKOFFER“ (Abb. S. 85, 86).
Glatte Decodierungen werden der komplexen Stimmungsmalerei nicht gerecht. Dennoch liegen immer wieder Deutungen nahe, besonders im Zusammenhang mit dem weiteren Werk. Die archaische Statuette auf einem Kugelgebilde, neben zwei quallig verformten, sich durchdringenden Kugeln, deren Blau wie von Gaswolken glüht: ein „WELTBILD“ (Abb. S. 76, 77), das aus den sphärischen Fugen geraten ist? Der halb geöffnete Schirm: Schutz oder Versteck, in dem Bedrohung mit Zuflucht zusammenfällt? Torsi, Köpfe, Masken: Auftauchen und Verschwinden menschlicher Signale um ein stabileres Konstrukt? Die neunfach ins Nichts geschobene Lade: Auslöschung oder „Beseelung“ durch die Rückkehr zur Stereometrie? Der leere Eimer, der für Abfälle breit steht, und, über den Kopf gestülpt, die Sinne ersticken lässt: Ein Todessymbol? Der Stuhl, der einen Ort besetzt: ein Ruhepol? Drähte, Fäden: Verwirrungen, Verwicklungen, Dickichte, in denen Denken und Handeln sich verfängt? Leitlinien der Kommunikation? Klaukes existentielle Grundthemen bestimmen auch die Röntgenbilder. Auch hier führen unsere Assoziationen tiefer in Stimmungen und Bedeutungen als die Fixierung eines einzigen Sinns.
Sechs „KULTURKOFFER“ versammeln, durchaus ironisch, eine Gegenwelt zur konzentrierten, primären Erfindungskraft; Faustkeile und Venus von Willendorf, Lurestanbronzen und germanische Adlerfibel, eine ägyptische Mumie und eine hochgotische Madonna, eine Batterie Coca-Cola-Flaschen und einen Schlumpf – Weltkunst im Nippesformat der Repliken, auf den Zuschnitt eines Vertreterkoffers gebracht, Kulturgeschichte als Geschichte der Dekulturation. Klauke: „Gegen Kulturpflege ist nichts zu sagen – ich bin für Kunst, nur ich lasse sie mir nicht vorschreiben, ich sehe sie als eine letzte Möglichkeit der persönlichen Entscheidung, in Frage zu stellen, umzuwerfen, auf den Kopf zu stellen... Die „KULTURKOFFER“ transportieren das Gegenteil: kunsthistorisch verordnete Musterexemplare als Reproduktion. Klaukes ganzes Werk entzieht sich dieser Kunst aus zweiter, dritter und weiterer Hand, so wie es sich Stilen und saisonalen Reflexen entzieht. Seine Bilder widerstehen der modischen Verspiegelung vorhandener Bilder. Sie verzichten aber auch auf die Introspektion der abstrakten Malerei. Sie gehen das Risiko einer genauen szenischen Formulierung und Gegenständlichkeit ein. Sie kehren Innenwelten nach außen, die sonst gestaltloses Plasma unserer Konflikte und Ängste sind.
Der „PROSECURITAS“-Zyklus setzt dies wörtlich um.